Das gemeine Volksnetz – als Fluch und Segen

Das Dresdner Institut für Kommunikationswissenschaft lädt zur »Digitalen Revolution der Demokratie« echte Größen der deutschen Netzpolitik ein

Der digitale Wandel in der Politik ist unaufhaltsam und rasant. Und doch irgendwie stecken geblieben. Zumindest, wenn man sich andere weltpolitische Phänomene ansieht wie die Geldauflösung dank Onlinetransfer, die Auflösung der abendländischen Arbeiterklasse mittels Industrietransfer in die so genannte zweite und dritte Welt oder vor allem die asymmetrische Kriegsführung an allen Fronten, also (auch) in allen Netzen.

Dank Edward Snowden, aber auch dank der nur zaghaft verschleierten Allmacht US-amerikanischer Sozialmedien, die eigentlich nur für Westeuropa problematisch ist, wissen wir allerdings: Die Umschaltung auf digitale Abstimmungsprozesse lahmt – und das wohl zurecht.

In dieses spannende Themenfeld (besser: thematisches Spannungsfeld) lädt die TU Dresden in Form ihres Institutes für Kommunikationswissenschaft ein. »Digitale Revolution in der Demokratie« heißt das Symposium vom 8. bis 10. September, welches etliche interessante und prominente Referenten nach Dresden bringen und damit auch das digitale Neuland Sachsen als Freistaat von technischen Innovationen karikieren wird. Doch nun wird der Istzustand, dank einer leidigen FDP-Periode an den Schaltstellen in Wirtschaft und Justiz (»Sachsen 2020«) zusätzlich um fünf Jahre gebremst, wenigstens erstmals in dieser Güte analog diskutiert. Mit »Wissenschaftlern und Praktikern aus Medien und Politik« – als simple Kleeblattkategorisierung in der Einladung – für »alle Interessenten aus Wirtschaft und Verwaltung«.

Soll heißen: Auch wahre Entscheider dürfen sich bilden, wobei man letztere sicher leichter bekäme, wenn man groß »Eintritt frei inkl. zwei Empfänge« drüber schriebe und das Ganze komplett in der Arbeitswoche veranstalten würde. So steht bescheiden in der Einladung ganz unten: »Eine Teilnahmegebühr wird nicht erhoben.« Nur eine Anmeldung per Mail bis zum Weltfriedenstag (soviel Sachkenntnis ist schon erforderlich) tut not. Und es geht ein ganzer Freitag und ein halber Sonnabend drauf, so die Kapazität von derzeit 80 Plätzen reicht.

Größen der vakanten Szene

Doch wichtiger ist der Untertitel: »Wie die Digitalisierung die Politik verändert: Trends, Mechanismen und Strategien, dem zu begegnen«. Dafür wurden einige Größen der vakanten Netzerkläreszene, die man sonst nur in Zeitungen mit echtem Feuilleton serviert bekommt, eingeladen. Diese werden kurze Schlüsselbeiträge, so genannte Keynotes, aus ihrer Lebens- wie Arbeitspraxis einbringen  
So erklärt Piratin Marina Weisband, wie »Liquid Democrazy« als Idee und parteiintern gut genutztes Modul für stete Abstimmungsprozesse taugt und wird – beruhend auf ihr Jugendwerk »Wir nennen es Politik« – noch andere Ideen für Netznutzung zugunsten von Demokratie darbieten. Noch spannender, weil resoluter, sind zwei andere Gäste: Suchtblogger Stefan Niggemeier, Gründer und Mitarbeiter diverser frischer Netzmedien von Bildblog über Krautreporter bis jüngst Übermedien als übergreifender Watchblog, wird spannende Thesen zur Zukunft des Journalismus in der digitalisierten Öffentlichkeit offerieren.

Und auch Anna Bisseli von netzpolitik.org, dem Fachmedium der kritischen Branche – daher von der Bundesregierung auch gern mal offiziell ausgeladen oder des Landesverrates bezichtigt – wird für Furore sorgen, indem sie erklärt, wie der Staatstrojaner die Spielregeln im freien Netz gefährdet, weil die propagierte »digitale Hausdurchsuchung« einfach etwas völlig Falsches suggeriert. Ihr Medium wirbt mit dem Spruch »Dem Innenminister den Wein versauern« – mit einem Foto vom jenem ranghöchsten sächsischen CDU-Politiker, der gerade vorfreudig ein Weinglas betrachtet – vermutlich nicht mit Meißner Inhalt aus seinem Wahlkreis. Zudem ist Bisseli mit ihrer digitalen Brigade von der 80-köpfigen Jury des führenden Fachblattes namens »Medium Magazin« als Team zu den »Journalisten des Jahres 2015« gewählt wurden.

Politische Netzprobleme im Fokus der Sozialwissenschaften

Die vier wissenschaftlichen Keynotes sind ebenso stark besetzt: So spricht Gerhard Vowe, einst Gastprofessor an der TU Dresden und jetzt als Kommunikationswissenschaftler an der Heine-Uni Düsseldorf maßgeblich an einigen Vermessungen des mehrdimensionalen politischen Netzraumes beteiligt, gleich zum Einstieg nach der Begrüßung von Gastgeber und Institutschef Lutz Hagen, der derzeit auch Dekan seiner Philosophischen Fakultät ist (9. September, 9 Uhr) über politische Kommunikation, deren Dimensionen und Folgen. Er kennt sich aus, leitet er doch die bundesweite Forschungsgruppe »Politische Kommunikation in der Online-Welt« und wird wohl nächstes Jahr gehörig mitentscheiden, welches Konzept zum ersten deutschen Internet-Institut den finalen Zuschlag bekommt.

Auch seine Bonner Kollegin Caja Timm hat neben der Vita ein spannendes Sujet (weit vor der aktuellen Arenajagd der infantilen Smartphonejugend als Krone der digitalen Offenbarung) auserwählt: »Inwieweit sind jene sozialen Netzwerke wirklich für politische Partizipation tauglich?«, fragt sie sich und die Welt. Und ist dabei Zwitscherexpertin: Sie leitet das Projekt »Deliberation im Netz: Formen und Funktionen des digitalen Diskurses am Beispiel des Microbloggingsystems Twitter« innerhalb des DFG-Schwerpunktes »Mediatisierte Welten – Kommunikation im medialen und gesellschaftlichen Wandel«.

Gemeinsam mit den Herren Hagen und Vowe wird sie dann per Podiumsdiskussion unter Moderation von Peter Stawowy vom Dresdner Flurfunk auf Staatskanzleichef Dr. Fritz Jaeckel (CDU) treffen, um die Digitalisierung der Politik zu bereden. Die drei Praxisgäste, die man gerne dort gesehen hätte, plagt offenbar die Zeitnot zu sehr, um auch hier zum Bleiben zu kommen.

Strukturwandel der Öffentlichkeit

Noch nicht ganz auserwählt – es war eben ein sportlich kurzer Sommer – ist der vierte Baustein, bestehend aus drei 90-Minuten-Panels, jeweils bestehend aus drei Beiträgen plus Diskussion. Daher wurde die Einreichefrist bis Mitte August verlängert, der Rahmen ist jedoch mit drei Fragen klar umschrieben: Wie können die Potenziale der digitalen Informations- und Kommunikationstechnologien im Feld der politischen Kommunikation gehoben werden? Wie können mögliche Dysfunktionen eingedämmt werden? Welche Erfahrungen gibt es seitens der Praxis? Denn die Dresdner Kommunikationswissenschaftler – Professor Hagen wird von Anna-Maria Schielicke sowie der Wiener Gastprofessorin Cornelia Brantner sowie Cornelia Mothes unterstützt – sprechen von einem zweiten Strukturwandel der Öffentlichkeit, der die politischen Akteure vor große Herausforderungen stellt und vor allem drei Entwicklungen betrifft: Zum einen die erleichterte Partizipation. Jeder könne nun leicht und billig politische Botschaften auch ohne Massenmedien massenhaft verbreiten. Aber: Es könnte sein, dass dadurch überwiegend die Partizipation der politisch sowieso Aktivsten gestärkt wird.

Das zweite sei ein »Algorithmischer Strukturwandel«. Die digitalen Angebote werden automatisch übermittelt und individuell angepasst. Es erfolgt darob Selektion und Individualisierung politischer Information, die sogenannte Filterblasen und Echo-Kammern verstärken, die die Polarisierung vorantreiben und die Diskussionskultur weiter verrohen lassen. Das dritte ist die akute Ressourcenkrise des Journalismus. Die klassischen Medien haben noch keine Antwort auf den Wegfall der Ertragskraft (mangels Verkauf und Anzeigen), die das Netz mit seiner weitestgehenden Kostenfreiheit frisst. Man darf auch hier auf Thesen wie empirische Daten gespannt sein.

Cheforganisator Hagen, der die Idee gemeinsam mit Sachsens Staatskanzlei im Herbst 2015 entwickelte, dessen Institut aber nun freie Hand bei der Gestaltung hat, weiß um die Relevanz: »Es gibt hinreichende Untersuchungen zum klassischen Internet, also dem Web 1.0. Das hatte keine negativen oder positiven Auswirkungen auf die demokratische Partizipation. Beim Web 2.0 und seinen sozialen Netzwerken sind die bisherigen Ergebnisse sehr ambivalent – die Wissenschaft vermag bisher keine eindeutige

Folgenabschätzung wagen, die Forschungslage ist da noch sehr unübersichtlich«, erklärt er und verweist fragend auf faule Aktivismen, die trügen: »Eine Online-Petition kann man auch vom Sofa aus unterzeichnen – aber ist das schon jene politische Teilhabe, die eine Demokratie zum Erhalt braucht?«
Andreas Herrmann

Digitale Revolution in der Demokratie 8. bis 10. September
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