Ein Baum mit derart starken Wurzeln

Wayne Graham war im Blue Note

Es trifft zu, was Kulturpessimisten behaupten. Heutzutage, im Zeitalter der Globalisierung kommt prinzipiell jede Musik von überall her. Regionale Unterschiede gibt es nicht mehr. Der New Orleans-Rhythm & Blues mit seinen verzwickten Secound Line-Rhythmusmustern? Wird inzwischen ebenso kompetent in Dresden gespielt. Der Liverpool-Beat der Beatles? Gehört längst auch in Tokyo oder Sao Paulo zum Standardvokabular einheimischer Rockbands. Trotzdem, nach wie vor macht es Sinn, nach der regionalen Herkunft zu schauen. Bei Kenny und Hayden Miles von Wayne Graham jedenfalls ist es mehr als Faktenhuberei der Vollständigkeit halber, wenn ihre Plattenfirma im Pressetext zum jüngsten Album „Mexico“ (K&F) erwähnt, dass das Duo in Whitesburg, Kentucky beheimatet ist.

Die Zweitausendseelenortschaft liegt mehr oder weniger im Einzugsgebiet bedeutender Musikschauplätze. Keine zwei Autostunden entfernt, Bristol, Tennessee, die Kleinstadt in den Nordwestausläufern der Great Smokey Mountains, wo 1927 die Geburtsstunde der Country Music schlägt, als sowohl die Carter Family als auch Jimmie Rodgers ihre erste Schallplatteneinspielung erleben. Bill Monroe, der Urvater des Bluesgrass, kam aus Rosine, Kentucky. Ebenfalls keine Weltreise weit weg, Nashville, Tennessee, die Country Music-Hochburg schlechthin. Und noch viel dichter an Whitesburg gelegen, Harlan, die Bezirkshauptstadt von Harlan County, in den dreißiger Jahren Schauplatz massiver Bergarbeiterstreiks, denen die amerikanische Gewerkschaftsbewegung mit „Which Side Are You On“ einen ihrer bekanntesten Songs verdankt, gecovert von Pete Seeger bis Ani Difranco.

All das wäre sicherlich kaum erwähnenswert, läge den Gebrüdern Miles dieses Erbe nicht sehr wohl am Herzen. Schon der Bandname verrät ein ausgeprägtes Geschichtsbewusstsein. Wayne Graham, das bezieht sich auf ihre beiden Großväter Wayne Miles und Graham Kincer, Vertreter eines weit verzweigten Familienklans, dessen Mitglieder selbstredend im Bergbau geschuftet haben, aber auch leidenschaftliche Musiker gewesen sind.

Nun klingt „Mexico“ zugegeben noch nicht derart einzigartig, dass die Band unter all ihren Mitbewerbern sofort heraushörbar wäre. Grundsätzlich würde man ihren Stil als Americana bezeichnen, und jeder, der sich halbwegs für diese Musikart begeistert weiß, es gibt Heerscharen ähnliches Bands überall auf der Welt. Aber man bleibt hängen, hört das Album noch mal und noch mal und entdeckt schließlich, wie organisch Musik und Songtexte miteinander verwoben sind, wie effizient und gleichzeitig vielgestaltig Haydens Schlagzeug mit Kennys Gitarre und Gesang verzahnt ist.

Man merkt, dass diese Geschichten erzählt werden müssen, andernfalls wäre das Seelenheil der beiden Protagonisten in Gefahr. Aber ein Baum mit derart starken Wurzeln in der Tradition kann gar  nicht anders als in nicht allzu ferner Zukunft eine üppige Krone zu tragen, so viel steht fest. Wer gestern Abend den Weg ins Blue Note fand, kann später noch den Enkeln berichten, nicht nur ein grandioses Konzert erlebt zu haben, sondern auch dabei gewesen zu sein, als Wayne Graham ihr Europadebüt gaben, entdeckt, veröffentlicht und engagiert unterstützt wohlgemerkt von einem Dresdner Schallplattenlabel.
Bernd Gürtler
 
Wayne Graham
27. Oktober, Blue Note
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