Ein Text zur rechten Zeit

Gespräch mit Ben Becker über sein Programm "Ich, Judas"

SAX: Vor zehn Jahren haben Sie sich in einer vielbeachteten und aufwendigen Inszenierung der Bibel gewidmet. Nun treten Sie in Kirchen mit »Ich, Judas« auf. Kann man die Entstehung dieses neuen Programms auf die damalige Beschäftigung mit dem »Buch der Bücher« zurückführen?
Ben Becker: Nein, das ging ganz andere Wege. Es ist ja nicht so, dass ich mich jetzt nur noch der heiligen Schrift verschrieben habe. Ich bekam das Angebot, den Text von Walter Jens, also die »Verteidigungsrede des Judas Ischariot«, als Hörbuch einzulesen. Bei der Auseinandersetzung mit diesem Text war ich sofort begeistert und der Meinung, dass ich damit einen neuen Abend gestalten möchte. Ich habe mir dann den Dramaturgen John von Düffel ins Boot geholt und über den Suhrkamp Verlag bekam ich »Judas Kapitel 47« von Amoz Oz. So entstand nach und nach dieses Programm.

SAX: Walter Jens hat diesen Text – so vermute ich mal – nicht mit der Intention geschrieben, dass er aufgeführt, inszeniert wird. Das ist ja ein Gedankenexperiment, ergo sehr theoretisch. Wie arbeitet man sich als Schauspieler in so ein Werk hinein, dass man es im Wortsinne mit Leben füllt, mit Leib und Seele darbieten kann?
Ben Becker: Natürlich stelle ich mich zunächst in den Dienst des Textes. Ich denke aber, dass viele Leute einen besseren Zugang dazu bekommen, wenn man ihn frei gesprochen erlebt – und die bisherigen Erfahrungen zeigen mir, dass diese Idee auch aufgeht. Allerdings glaube ich durchaus, dass Walter Jens den Gedanken hatte, dass man seine »Verteidigungsrede« auch auf die Bühne bringen kann.

SAX: In der allgemeinen Wahrnehmung, auch im Sprachgebrauch, gilt der Judas als das Nonplusultra des Verrats, des totalen Vertrauensbruchs. Wie mühselig ist es da, diesen Mann von seiner Schuld freizusprechen oder Verständnis für ihn zu erlangen?
Ben Becker: Diesen Versuch machte ja nicht nur Walter Jens, sondern auch Amoz Oz auf eine sehr spannende Weise. Ich dagegen bin nur jemand, der die Texte wiedergibt. Ich kann auch auf die Frage, ob Judas heilig oder schuldig ist, keine Antwort geben. Ich finde aber die Fragestellung interessant, wie ein Mensch oder eine Figur, vielleicht auch eine fiktive Figur, sich damit fühlt.

SAX: Sie geben dem Stoff Ihr Gesicht. Inwieweit gewichten Sie ihn dann auch?
Ben Becker: Was ich sagen kann, ist, dass ich diese Figur nicht unsympathisch finde. Wenn ich mich mit ihr nicht indentifizieren könnte, würde das auch nicht funktionieren. Eine Interpretation findet aber nur durch die Inszenierung statt. Ich habe mich zum Beispiel entschieden, mir einen weißen Lammledermantel überzuwerfen. Da stecken dann schon wieder so viele Symbole drin: Weiß als die Farbe des Friedens und der Heiligsprechung – oder steht der Lammledermantel für das geschlachtete Lamm? Aber am Ende gilt: Ich bringe nur die Infragestellung der Schuld einer schuldig gesprochenen Person auf die Bühne. Ich sage eben nicht: Judas ist unschuldig. Ich gebe aber zu, dass ich gedanklich dazu tendiere.

SAX: Es scheint überhaupt der richtige Text zur – im doppelten Sinne – rechten Zeit zu sein. In Dresden hört man fast jeden Montag dieses Wort: »Volksverräter«. War es also fällig, sich mit dem Begriff des Verrates auseinanderzusetzen?
Ben Becker: Auf jeden Fall, das ist absolut aktuell. Und ich bin froh, dass ich da das richtige Gespür für den Zeitpunkt hatte und dass der Abend so toll angenommen wird. Neulich sah ich in den Nachrichten, wie Flüchtlinge bei 10 Grad unter null zu Fuß durch den Balkan laufen, wie die Kamera auf eine Frau mit ihrem kleinen Kind schwenkt. Dann frage ich mich doch: Wer hat diese Frau verraten? Und wer verrät die jetzt hier bei uns, wenn die mit Molotow-Cocktails beworfen werden? Das sind Fragen, die kommen in diesem Judas-Text vor. Da entstehen Assoziationen, die nicht nur bei mir aufkommen, die übertragen sich auch auf das Publikum.

SAX: Die Person Judas Ischariot gilt für viele auch als Ausgangspunkt für religiösen Antisemitismus. Hat das bei den Überlegungen zu dem Programm eine Rolle gespielt?
Ben Becker: Nein, obwohl ich ja selbst zu dieser »Mannschaft« gehöre. Aber das Thema zeigt eben auch, bis wohin man das weiterdenken kann, bis hin ins Private. Vor allem die Frage: Wen habe ich selbst einmal verraten? Das scheint bei den Leuten etwas auszulösen, wenn man sie – im theatralisch besten Sinne – treffen kann.

SAX: Aber dieses Getroffensein ist auch mit Schmerz verbunden.
Ben Becker: Definitiv. Jeder hat sicher selbst die Erfahrung gemacht, verraten worden zu sein. Das ist absolut schmerzhaft. Deshalb spielt dieser Schmerz bei meinem Judas-Abend auch eine große Rolle. Aber der Schmerz geht auch über in den Angriff – es ist ja eine Verteidigungsrede. Ich will nicht vor Trauer dahinschmelzen, sondern ich sage: Das könnte ihr mit jemandem so nicht machen!

SAX: Sie treten mit dem Programm fast ausschließlich in Kirchen auf. Wie waren da die Reaktionen bisher?
Ben Becker: Die Kirche war sehr offen für Diskussionen auf eine sehr ernst zu nehmende und existenzielle Art und Weise. Deshalb interessiert mich auch die Auseinandersetzung mit kirchlichen Vertretern – egal, welcher Konfession. Ich selbst gehöre ja keiner Konfession an.

SAX: Gehen Sie im »normalen« Leben trotzdem manchmal in Kirchen?
Ben Becker: Ich sage immer: Theater und Kirchen sind heilige Orte. Manchmal betrete ich eine Kirche und gehe für einen Moment in mich – das bringt dieser Ort so mit sich. In einem leeren Theater fühle ich das ganz ähnlich.

SAX: Sie haben einmal gesagt, dass dieser Judas-Abend 90 Minuten dauert, es sich für Sie aber anfühlt wie drei Stunden. Nun sind Sie als sehr körperlich und kraftvoll agierender Schauspieler bekannt. Wie besonders ist diese Herausforderung?
Ben Becker: Ja, besonders ist das auch, da habe ich mir was vorgenommen. Aber genauso soll es auch sein, so bereitet es mir Freude.

SAX: Arbeiten Sie in dem Programm nur mit den Texten?
Ben Becker: Nein, es gibt auch Musik, das ist übrigens von Walter Jens vorgegeben. Es gibt Stücke von Bach, aber auch Improvisationen, gespielt vom Berliner Domorganisten Andreas Sieling. Die Musik muss auch sein, damit man durchatmen kann. Denn auch der Text von Amoz Oz ist nicht ohne. Überhaupt ist es eine Trilogie: An den Anfang stelle ich das Matthäus-Evangelium, Vers 20 bis 25, um den biblischen Verrat mal so hinzustellen, dann folgen der Amoz Oz und nach einer Pause am Ende der Walter Jens. Ein textliches Tryptichon sozusagen.
SAX: Vielen Dank für das Gespräch.
Interview: Uwe Stuhrberg

Ben Becker: Ich, Judas 5. und 6.. April, 20 Uhr, Martin-Luther-Kirche
www.benbecker.de