Und die Hausaufgabe lautet ...

Review: Sven Helbig mit "I Eat The Sun And Drink The Rain" im Kleinen Haus

Was soll man sagen, ein außergewöhnlicher Abend! Mit beträchtlichem Einmaligkeitswert, so geschwind wird es eine Wiederholung dieser sehr speziellen Versuchsanordnung in Dresden sicher nicht geben.
Sakraler Chorgesang, dargeboten vom Thüringischen Akademischen Singkreis, kurz TASK, verband sich mit dezenten Elektrobeats und Sounds aus Sven Helbigs Laptop und der Düsternis in den Videobildern des Isländers Máni Sigfússon. Eine wahre Meisterleistung dürfte es schon gewesen sein, den Chor mit der etwas steifen Elektronik in Einklang zu bringen. Chordirigent Jörg Genslein musste mehr für Gleichmaß sorgen, anstatt Drive zu geben. Damit das klappt und das musikalische Geschehen obendrein synchron mit dem Videomaterial abläuft, bekamen sowohl er als auch Sven Helbig einen sogenannten Clicktrack, sprich eine neutrale Taktspur über Kopfhörer eingespielt.

Die Chorsänger, buchstäblich von Kopf bis Fuß in schwarze Bühnenoutfits der Berliner Modedesignerin Esther Perbandt gehüllt, verschwanden auf der ebenfalls schwarzen und meistens in tiefste Dunkelheit getauchten Bühne fast vollständig. So wenig wie möglich sollte von der Musik ablenken. Und da die Aufführung wegen des besonderen Charakters der Musik dazu neigt, eher statisch zu wirken, wurde dem Ganzen etwas Bewegung verliehen, indem der Chor mehrfach seine Position wechselte. Vom Bühnenhintergrund in eine Kreisformation in der Bühnenmitte, von dort an den vordersten Bühnenrand, währenddessen Jörg Genslein vom Auditorium aus dirigierte.

Was sich als Hinweis deuten lässt, dass das, was auf der Bühne verhandelt wird, einen jeden betrifft. Und das tut es, zweifellos. Auf dem Programm stand nicht weniger als Sven Helbigs komplettes zweites Soloalbum "I Eat The Sun And Drink The Rain". Wer das ausführliche Interview in der SAX-Ausgabe vom November vergangenen Jahres gelesen hat, weiß, worum es geht. Um "Dinge, die das Menschsein betreffen". Beispielsweise die Debatte, wie wir "mit Flüchtlingen umgehen, die in Europa Schutz suchen. Lassen wir Menschen im Mittelmeer ertrinken oder retten wir sie? Sobald jemand sagt, selbstverständlich müssen wir Menschleben retten, sieht sich derjenige dem Vorwurf ausgesetzt, ein Gutmensch zu sein. Ich will mich gar nicht allzu sehr zwischen die Stühle setzen. Aber mir ist wichtig, dass wir uns Klarheit verschaffen. Menschlichkeit, was ist das? Humanität, wo beginnt das, wo hört das auf? Der andere mir wichtige Themenkomplex betrifft den digitalen Fortschritt. Stichwort künstliche Intelligenz, die den Menschen in einer nicht fernen Zukunft Entscheidungen abnehmen wird. Irgendwann muss jemand einem selbstfahrenden Automobil algorithmische Formeln einprogrammieren, die festlegen, ob in Gefahrensituationen das Kind oder die Oma überfahren wird."

Weder dieser noch jener der beiden Aspekte hat seither an Brisanz verloren, im Gegenteil – zwischen Schnäppchenjagd und Dschungelcamptratsch fällt es bloß keinem so recht auf. Umso erstaunlicher, dass an keiner Stelle des Abends ein Moment zu erkennen gewesen wäre, der einen Aha-Effekt beschert und das Publikum gescheiter entlassen hätte. Und das, obwohl Sven Helbig wirklich niemand ist, der Kunst als Selbstzweck betreibt. Der Soundtrack zu Sergej Eisensteins Stummfilmklassiker "Panzerkreuzer Potemkin", entstanden in Kooperation mit den Pet Shop Boys, kam nicht deshalb auf dem Londoner Trafalgar Square und in Dresden auf der Prager Straße zur Aufführung, um ein möglichst megamäßiges Massenevent zur Eigenwerbung zu erzeugen, sondern weil Kunst im Alltag wirken soll. Seine "Pocket Symphonies" komponierte Sven Helbig ausdrücklich "für Alltagsmenschen".

Wie dem auch sei: Wer tiefer in die Materie einsteigen will, dem wird nichts anderes übrig bleiben, als die Songtexte zu "I Eat The Sun And Drink The Rain" im CD-Booklet nachzulesen. Und die Hausaufgabe lautet …, vielleicht sollte gerade das die Lektion des Abends gewesen sein.

Das Vorprogramm bestritt der Londoner Komponist und Multiinstrumentalist Roger Goula mit einer aus der DJ-Kultur (ganz nebenbei, auch Sven Helbig bezieht sich darauf) entwickelten Musikperformance. Er hatte ein ganzes Orchester in seinem Laptop. Es klang nach Geige, obwohl keine Geigen auf der Bühne zugegen gewesen sind. Perkussionselemente hörten sich von vornherein wie Laborkreationen an und kamen ebenfalls von der Festplatte. Die Gitarre wurde weniger als Gitarre sondern mehr wie ein Impulsgeber für ganz andere Klänge eingesetzt. Für einige im Publikum irritierend, der Vorwurf des unlauteren Wettbewerbs wurde erhoben. Womöglich ist der Mann gerade deshalb seiner Zeit um Riesenschritte voraus.
Bernd Gürtler

Sven Helbig
26. März Kleines Haus