16 Mal Furore

Vorgestellt: Ein ambitionierter Staatsschauspielplan

In den Dresdner Staatstheatern sind Intendanzen nicht so virulent wie anderswo. Der ex-designierte Semperopernintendant leitet nach kurzem Intermezzo sein altes Haus in Lyon erfolgreich weiter und bekommt wohl vor Gericht sein entgangenes Dresdner Jahresgehalt von kolportierten 300.000 Euro dank unglaublicher Ereignisse zumindest teilweise nachgeschossen, der nachfolgend designierte hat in Nürnberg noch Vertrag und so erst 2018 Zeit. Zur tragischen Erinnerung: Vorgängerin Ulrike Hessler, erste Frau an der Spitze, starb im Juli 2012 mit 57 an Krebs.

Im benachbarten Staatsschauspiel gibt es – nachdem Wilfried Schulz nach Hannover und Dresden nun ab Herbst Düsseldorf in die erste Schauspielliga führen soll – nur eine Spielzeit als Hängepartie, weil der Neue aus Braunschweig, der jüngst durch die kürzeste und blasseste Dresdner Rede der bisherigen 98 Folgen auffiel, erst 2017 Zeit hat. Diese kurze Übergangszeit wurde just am 17. Juni 2015 eingeläutet: „Jürgen Reitzler und Wolfgang Engel leiten Staatsschauspiel Dresden interimistisch“, vermeldete das verantwortliche sächsische Kunstministerium , dass Dresden die beiden Staatstheater direkt spendiert und samt Staatskapelle auch überfürstlich bezahlt, nach der Pressekonferenz. Ministerin Eva-Maria Stange (SPD), damals im roten Jacket mitten im Oberbürgermeisterwahlkampf steckend, stellte die eilige, überraschende und zeitversetzte Lösung selbst vor – Schulz, Engel und Reitzler lachten erleichtert in die Kameras.

Keine Doppelspitze, volles Programm

Das heißt: der künstlerische Betriebsdirektor Jürgen Reitzler wird das Staatsschauspiel Dresden in der kommenden Spielzeit 2016/2017 als Interimsintendant leiten und sollte in künstlerischen Fragen von Regisseur Wolfgang Engel, der in Dresden von 1980 bis 1991 als Hausregisseur und in Leipzig von 1995 bis 2008 als Intendant für künstlerische und auch personelle Konstanz sorgte und beiden Häusern als Regisseur große Abende bescherte, beraten werden. Das klang nach veritabler Doppelspitze, gerät aber nun etwas in den Hintergrund, denn Engel war (oder ist) schwer krank und befindet sich derzeit in einer Reha-Klinik. „Er hat aber in der Vorbereitung und auch beim Vorsprechen geholfen und wird auch seinen Amphitryon inszenieren“, versprach Reitzler bei der Jahrespressekonferenz am Donnerstag.

Dieser hatte sich – ganz im Gegensatz zu Schulz, der das helle Foyer bevorzugte – die beleuchtete Bühne als Ort seiner „ersten und einzigen Pressekonferenz“ ausgewählt und präsentiert mit Beate Heine als Chefdramaturgin die eigentliche Überraschung. Denn diese war in der Ära Schulz in Hannover dessen Chefdramaturgin und ging in der Spielzeit 2009/10 als geschäftsführende Dramaturgin zu Joachim Lux ans Thalia Theater Hamburg – also jenes deutsche Schauspielhaus, dass Dresden in Sachen Publikumsresonanz noch übertrifft.

Spielstättenexpansion und Montagswut

Von dort bringt sie nun große Kontakte von der Unter- an die Oberelbe, Namen wie Jan Bosse oder Christina Rast, aber auch Künstler aus Island, Kroatien, Israel, Österreich, Russland, Slowenien, der Schweiz und der Türkei werden die Vergangenheit und Zukunft Europas beleuchten und dabei auch neue Ort erkunden: die Schütz-Kapelle im Schloss, einst als Schlosstheater bekannt, aber auch die Trinitatiskirchruine (3x), das Palais im Großen Garten, die Gemäldegalerie Alte Meister, die Frauenkirche und der Theaterplatz werden zur Staatsbühne. 34 Premieren und 26 Wiederaufnahmen versprechen einen exorbitanten Spielplan, 14 Urauffführung und zwei deutsche Erstaufführungen werden für Furore unter den Handlungsreisenden in Sachen Theater sorgen.
In diesem tauchen erstaunlich viele bekannte Gesichter auf, die dem treuherzigen Dresdner Publikum erhalten bleiben, auf. Zwar verlassen 13 Leute verlassen das Ensemble, die meisten werden das aber als Gäste vorerst kaschieren, denn es kommen insgesamt 26 Inszenierungen als Wiederaufnahme ins neue Repertoire, darunter „Amerika“, „Hamlet“, „Terror“ oder Christa Wolfs „Der geteilte Himmel“ im Schauspielhaus, aber auch „Tschick“ und Engels Nathan im Kleinen Haus. Verloren sind verwerflicherweise Volker Löschs „Graf Öderland“ und die ganz frische „Unterwerfung“. Auf der Bühne vermissen wird man vor allem Ina Piontek und Christian Erdmann, die neben fünf anderen Spielern mit nach Düsseldorf ziehen. Der eigentliche Umbruch wird so vermutlich erst 2017 passieren, wenn die Braunschweiger Brigade hier einrückt.

Neun neue Gesichter und gute Bekannte

Derweil sind neun neue Gesichter im 160-seitigen Spielzeitbuch abgebildet, welches wieder in  Damenhandtaschen passt. Schön, dass neben den zehn „großen Alten“ auch Leute wie Antje Trautmann, Ines Marie Westströer, Christian Clauß, Matthias Reichwald, Torsten Ranft und Ben Daniel Jöhnk bleiben. 30 feste Ensemblemitglieder will Reitzler neben dem siebenköpfigen Schauspielstudio verpflichten, 29 davon stehen bereits auf der interessantesten Seite Nummer 134, auf der auch Martin Heckmanns wieder als Dramaturg im Heft steht – und dem Schlosstheater als die Uraufführung „Mein Herz ist rein“ mit Premiere am 11. September stiftet und für die Bürgerbühne eine eigene Fassung von „Romeo und Julia“ für deutsche und arabische Jugendliche widmet (1. Oktober im Kleinen Haus) schuf.

Das Schauspielhaus wird nach der Abschiedsfeier am 11. und 12. Juni erst einmal viereinhalb Monate fürs Publikum geschlossen und vor allem bühnentechnisch erneuert. Es eröffnet mit Shakespeares „Othello“ in Regie von Thorleifur Örn Arnasson am 29. Oktober wieder. Dort gibt es mit Medea, dem Graf von Monte Christo, dem Volksfeind und Fallada bekannte Namen, während Philipp Stölzl, der gerade Winnetou als Trilogie fürs Privatfernsehen verfilmt, die Uraufführung von Jan Dvoraks „Der Phantast“ inszeniert, wobei der Untertitel „Leben und Sterben des Dr. Karl May“ alles erklärt.

Die interessantesten Premieren sind wie gehabt anderswo und stehen geschickt am Anfang: Neben Heckmanns vor allem die Uraufführungen der Romane von Ilja Trojanow und Peter Richter: „Der Weltenbummler“ (Premiere: 21. August im Schlosstheater) und „89/90“ (27. August im Kleinen Haus). Ergänzt wird der Start im Palais im Großen Garten von Horváths „Zur schönen Aussicht“ (25. August) und von Triers „Europa“ (6. Oktober).

Gut auch, dass sich Miriam Tscholl und ihr vierköpfiges Bürgenbühnenteam der Stadt erhalten bleibt: Sie stiften fünf Premieren, darunter zwei Uraufführungen und stemmen mit Dresdner Bürgern und  Landschaftstheaterspezialist Uli Jäckle an der Spitze Peter Handkes „Die Stunde da wir nichts voneinander wussten.“ Dieses war einst als Leipziger Engel-Gastspiel im Großen Haus zu sehen. Die Premiere im Juni 2017 soll auf dem Theaterplatz stattfinden und auf möglichst auf einen Montag fallen: Man traut den konkurrierenden Spaziergängern also einen langen Atem zu – und einen besseren Titel zur Begegnung gibt es kaum. Auch am 17. Juno 2017 ist „Wut“ vorprogammiert: Dann schafft es Elfriede Jelineks „psychogeografische Konzertperformance dank Voglers Musikfestspielen in die Frauenkirche – vielleicht die rechte Zeit für eine Bilanz.
Andreas Herrmann

www.staatsschauspiel-dresden.de