Vom Herausgehen am Tage

Ägyptische Grabkunst aus der Dresdner Skulpturensammlung im Zwinger

Sarg der Djed-mut-ju-anch Foto: Klemens Renner

»Die Sprüche vom Herausgehen am Tage«, so nannten die alten Ägypter ihre wohl berühmteste Sammlung von Jenseitstexten. 1842 wurde das Kompendium von dem deutschen Ägyptologen und Sprachforscher Carl Richard Lepsius auf der Grundlage der großen ptolemäischen Handschrift in Turin entziffert, herausgegeben und unter dem Titel »Ägyptisches Totenbuch« bekannt. Es besteht aus rund 200 religiösen Sprüchen, liturgischen Anweisungen, Beschwörungs- und Zauberformeln, die die Prüfungen der menschlichen Seele in der Unterwelt betreffen, bevor diese sich – nach erfolgreichem Bestehen des Totengerichts – mit dem Leichnam wiedervereinigen kann.

Die altägyptische Kultur und Kunst, deren Charakter sich über Jahrhunderte hinweg nicht wesentlich änderte, ist im Totenkult verwurzelt, der selbst voller Widersprüche und Mehrdeutigkeiten steckt. Es ist daher nur konsequent, dass sich die von Saskia Wetzig kuratierte Ausstellung der Dresdner Skulpturensammlung in der Sempergalerie im Zwinger insbesondere den Themen Totenritual, Götterwelt und Jenseitsvorstellungen im alten Ägypten widmet, ohne die die Gesellschaft, Geschichte und Kunst der alten Hochkultur nicht zu verstehen sind. Zumal die Skulpturensammlung über einen herausragenden Bestand an insgesamt circa 6.000 Aegyptiaca verfügt, dessen enorme Qualität und Breite in dieser klug präsentierten Auswahl nach langer Zeit wieder erfahrbar werden.

Der altägyptischen Grabkunst wie dem Totenkult liegt der Gedanke zugrunde, die Form des menschlichen Körpers zu erhalten, weil sie für eine Fortexistenz der Seele nach dem Tod als unverzichtbar galt. Dafür reichte selbst die aufwendig betriebene Mumifizierung nicht aus, deren einzelne Schritte und Techniken (von der Gehirnentfernung durch die Nase, der Entnahme der übrigen Organe, über die Auswaschung der Leiche, bis hin zu seiner sorgfältigen Umhüllung mit vielen Textillagen) in der Ausstellung gut nachvollziehbar sind, vor allem dank des wunderbaren Totenbuchs des Anch-ef-en-amun. Der vermutlich aus Theben stammende, mehr als 2,8 Meter lange farbig bemalte Papyrus zeigt und beschreibt Götteranrufungen, Mumifizierung und Totengericht, inklusive der drohenden »Fresserin«, ein Mischwesen aus Krokodil, Löwe und Nilpferd, das für die Bestrafung zuständig ist, sollte die Waage mit dem Herz des Toten bei der finalen Wägung ins Ungleichgewicht geraten. Das Herz, in dem man den Sitz des Denkens und Fühlens vermutete, war für die Prüfung beim Totengericht also unverzichtbar und verblieb bei der Mumifizierung im Leichnam.

Die Mumienhüllen wurden mit großen, bereits zu Lebzeiten hergestellten Bildnissen der Verstorbenen versehen, entweder aus Gips geformt oder auf Leinwand bzw. Holz in Tempera oder Enkaustik (das sind durch Wachs gebundene Farben) gemalt. Je nach gesellschaftlichem Stand und finanziellen Möglichkeiten konnte die Mumie weiter dekoriert und mit einer vergoldeten Maske versehen werden. Das unzugängliche (nun ja, so jedenfalls die Theorie) unterirdische Grab wurde mit Reliefs und Wandmalereien ausgeschmückt, die ebenfalls allein der magischen Weiterexistenz des Toten im Totenreich dienten. In der Ausstellung sind Fragmente solcher Grabmalereien zu sehen, die wohl den Verstorbenen und seine Frau zeigen, beide mit schwarzer Perücke, während die Frau ihre rechte Hand schützend um die Schulter des Mannes legt. Es sind innige Details wie dieses, deren formale Reduktion und hohe künstlerische Qualität vollkommen vergessen machen, dass wir vor Werken stehen, die mehr als 3.000 Jahre alt sind.

Ganz nebenbei zeigt die Ausstellung auch die Berührungspunkte zwischen altägyptischen, griechisch-römischen und christlichen Glaubensvorstellungen. Obwohl im Alten Testament zum Land der Knechtschaft und des Götzendienstes gestempelt, wurde das »verlorene« Wissen der Ägypter – in der Kunst und im Pyramidenbau, in Astronomie, Astrologie und Alchemie – im Hellenismus glorifiziert und mystifiziert. Die kleinen frontalen Bronzestatuetten von Göttern der Familie des Osiris etwa folgen dem bekannten göttlichen Kleinfamilie-Schema aus (abwesendem) Vater, Mutter und wundersam empfangenem Kind: An der Spitze steht der Totengott Osiris, der einst als Pharao herrschte und von seinem Bruder Seth ermordet wurde. Seine Frau Isis, die »Zauberreiche«, konnte ihn wieder zum Leben erwecken und sicherte so seine Fortexistenz im Totenreich. Entsprechend wird Osiris als Mumie in Bandagen dargestellt, mit Götterbart am Kinn, Kobra an der Stirn und Atef-Krone auf dem Haupt, die ihn als Gott und Herrscher ausweisen.

Isis dagegen – Kant zufolge die Mutter der Natur – wird als Mensch gezeigt. Häufig erscheint sie, wie in der kleinen zärtlichen Gruppe in der Dresdner Ausstellung, als Isis lactans, also beim Stillen ihres Söhnchens Horus. Dieser nach dem Tod des Osiris Geborene konnte seinen Vater rächen und Seth die Herrschaft entreißen. Damit liefert die Legende um Osiris, Isis und Horus nichts weniger als ein Modell für den Tod und seine Überwindung – oder besser: seine Einbindung ins Leben.
Teresa Ende

Reise ins Jenseits Gemäldegalerie Alte Meister, Zwinger, bis 16. April 2023, gemaeldegalerie.skd.museum