Billets, Programme, Cineasten

Michael Wüstefeld erzählt Kinogeschichten

Jungs, wenn sie ihre Räuber und Gendarm-Periode glimpflich überstanden haben, werden häufig zu enthusiastischen Sammlern zum Beispiel von Briefmarken, verwandeln sich in Zacken- und Sperrwertkontrolleure und nennen sich Philatelisten, welche keineswegs mit den Philluministen verwechselt werden dürfen, die nämlich hamstern und tauschen bunte Zündholzschachteln. Manche Jungs aber, hart gesottene Lichtspielfans oder auch Cineasten, horten Kintopperlebnisse mit allem was dazu gehört: Billets, Programmen, Autogrammen und Künstlerpostkarten – Fetische und Erinnerungen an das »Kino der alten und der neueren Zeit«.

Bei Iván Mándy, dem ungarischen Erzähler, ist es Károly, der im Budapest der Zwanziger Jahre von einem Kino zum nächsten jagt, vom Capitol zum Bodograph, vom Phönix ins Tivoli, um den stummen Leinwandhelden Norma Shearer, Pola Negri oder Rudolf Valentino seine Referenz zu erweisen. Bei Michael Wüstefeld liefert Jahrzehnte später, Dresden die Kulisse für den »Jungen aus der Südvorstadt«, die Lichtspieltheater firmieren unter Schauburg, Faun-Palast, Astoria oder Parklichtspiele und die Helden in Cinemascope und bunt heißen Albert Finney, Susanna York, Gojko Mitic oder Angelica Domröse – und was bei Mandy nur verhalten »in Grautönen vieler Schattierungen glänzt«, mutiert bei Wüstefeld zum lebendigen kinematographischen Abenteuer einer Kindheit und Jugend, anschaulich dargeboten, spannend, interessant, komisch in einem und authentisch! Denn Wüstefeld, von Haus aus Dichter, setzt in diesem Falle (wenngleich: nicht nur) auf Fakten, Fakten, Fakten und das heißt, der Autor weiß nicht nur wovon er spricht, er kann es auch beweisen: kennt alle Dresdner Lichtfilmtempel beim Namen, ihre Biogramme von anno 1965 bis in die Neuzeit, von denen er fünfzehn selbst in Augenschein genommen hat.

Tucholskys hintergründigen Ratschlag im Sinn »Fange nie mit dem Anfang an«, erzählt Wüstefeld aber zunächst vom Fernsehen in der FDJ-Baracke, bevor er den zum Kino geadelten Festsaal der TH ins Spiel bringt, in dem er als Knirps der Aufführung des sowjetischen Buntfilms »Tierfänger« beiwohnen durfte. Am 2. Juni 1966 (der Eintrittskartenabriss liegt im Original vor) ist er von der Südvorstadt bis nach Wölfnitz gepilgert, um sich in der Filmbühne den verpassten Streifen »Fanfan, der Husar« von 1952 anzusehen. Merke: »je umständlicher der Weg zum Film, desto größer die Spannung.« Von der Augenweide ganz zu schweigen. Immerhin flimmerte jene legendäre » mit den Rundungen des weiblichen Universums gesegnete« Lollobrigitta als Adeline über die Leinwand, einstmals erwählt zum »schönsten italienischen Kleinkind« und hernach beinahe zur »Miss Roma« gekürt. Weshalb der Erzähler sich zerknirscht hinterfragt, ob er wirklich den großen Gérard Philipe bewundern wollte, oder hatten es (ihm) vielmehr die Dekolletés angetan? Die konnten schnell zum Hofgespräch unter Schulfreunden werden. Gerade so wie die Stippvisiten im »Ost« auf der Schandauer Straße, denn im dortigen Tagesfilmtheater verfügte der Saal »über eigenartige Nischen, … in denen (zuweilen) nicht allein Bonbontüten knisterten, sondern auch Dederonblusen und Strumpfhosen …«

Vollste Konzentration auf das Wesentliche hingegen forderte und erhielt vom Südvorstädter an gleicher Stelle, also im »Ost«, am 30. Oktober 1968, 19.30 Uhr der Western »Cheyenne« von John Ford, dem das Programmheft treuherzig aber dröge »eine realistische Gestaltung auf der Grundlage historischer Materialien« bescheinigte. Während der Südvorstädter naturgemäß die meisten Filme in seinem Heimatort konsumiert (1967 sind es 59 Streifen!) zieht es ihn doch mitunter ins Offenere. In Berliner Premierenfilmtheater Kosmos meutert im Juni 1969 Marlon Brando auf der »Bounty«. Im Leipziger Filmkunsttheater »Casino« darf Däniken am 12. Mai 1973 an die Zukunft erinnern und im August 1974 geht es bis an den Plattensee, wo im Siofóker kertmozi »The concert from Bangladesh« mit Georg Harrison laufen sollte. »Eine Ungeheuerlichkeit bahnte sich an. Etwas lag in der Luft. Das erste Mal in Ungarn, und schon sollte mir ein Beatle begegnen, mit Ringo am Schlagzeug sogar zwei!«
Li Lien

Michael Wüstefeld: Kinogeschichten Sandstein-Verlag 2016, 18 Euro
www.verlag.sandstein.de