Das halbe Leben ganz

Dresdner Frauen erzählen von ihren Träumen und ihrer Kindheit

Was dieses Buch so reizvoll macht, ist die Ehrlichkeit seiner Autorinnen im Umgang mit den Erinnerungen. Neun Dresdner Frauen, die sich seit vielen Jahren zu einer Erzähl- und Schreibgruppe zusammengefunden haben, erzählen ihre Kindheit, und den oft schwierigen Lebensweg durch die Wirklichkeit der DDR und die darauffolgenden Jahre um und nach dem Beitritt zur BRD. Herausgeber des Bandes sind die Sozialpädagogin Hansi-Christiane Merkel und die Psychotherapeutin Angelika Weirauch, unter deren Leitung Konzeption, Auswahl und Zusammenstellung erfolgten. Von frühster Kindheit an bis ins mittlere Erwachsenenalter bildete die DDR den Rahmen, in dem die Erzählerinnen wichtige, für ihr Leben prägende Erfahrungen sammelten. Ein halbes Leben und doch ganz, zieht man die darauffolgende Entwicklung nach der Wende in Betracht. Die Herausgeberinnen schreiben in einem Statement zum Buch: »Wie wir geworden sind, was unsere Kindheit prägte, wovon wir träumten, wem wir uns verbunden fühlten, was uns trug, antrieb und politisch bewegte – all diesen Fragen nachzuspüren, erwies sich als ebenso herausfordernder wie erkenntnisreicher Prozess ... von einer Gleichförmigkeit der Lebenswege, wie sie der DDR-Biografie oft unterstellt wird, kann keine Rede sein.«

Der Band ist in zehn Hauptkapitel aufgeteilt, für die die Autorinnen jeweils mehrere Kurzerzählungen beisteuerten. Mich sprach das Kapitel »Zwischen Kampflied und Choral« besonders an, verbinden sich doch bei mir mit einigen Autorinnen ähnliche bipolare Erfahrungen. Simone Urbank, in einfachen Verhältnissen eines Arbeiterhaushaltes groß geworden, in dem Bücher aber eine große Rolle spielten, beschreibt in ihrer Erzählung »Fröhlichsein und Singen« ihre Wünsche und Sehnsüchte. Die DDR hatte es verstanden, in der Pionierorganisation ein Refugium für die Heranwachsenden zu schaffen. Neben Aufmärschen, Fahnenappellen und sportlichen Wettkämpfen, die weniger beliebt waren, wurde gesungen, getanzt und Gedichte rezitiert, was den Kindern Halt gab und ein Behütetsein erzeugte, ein Gefühl von Geborgenheit, in dem viele sich wohlfühlten. Gleichzeitig aber interessierte sich das junge Mädchen durch den Besuch der Chris­tenlehre für Kirchenmusik und das Singen von christlichen Chorälen, von denen ihr viele neben den Liedern der Pioniere und der Singebewegung im Gedächtnis haften geblieben sind. Auch hier, wie in anderen Beiträgen, wird immer wieder auf die Rolle der Eltern verwiesen, die sich zwischen widerständig und konform auf die Haltung und die Entscheidungsfreiheit ihrer Kinder auswirkte und oft zu Konflikten führte. Simone Urbanks Lebensgang war schwierig, da sie ihr Studium am Institut für Lehrerbildung abbrechen musste: »Im dritten Studienjahr habe ich meine eigenen, teilweise idealisierten Vorstellungen von sozialistischer Lehrerbildung offen geäußert und wurde mit dem Befund der politischen Unreife exmatrikuliert.« Schließlich aber gelang es ihr, nach der Wende 1990 als alleinerziehende Mutter von zwei Kindern ihren Weg in die Sozialarbeit, zur Musiktherapie und in die Musikpädagogik zu finden.

Insgesamt ist der Befund dieses Buches positiv: Alle neun Frauen haben ihren Weg zu sich selbst, wenn auch auf Umwegen, gefunden, über einen Beruf, der sie beglückt und zu starken Persönlichkeiten gemacht hat. Das scheint mir beachtlich für eine Generation von Frauen, die in der DDR Beruf und Familie unter einen Hut bringen und sich nach 1989 grundlegend neu orientieren mussten.
Heinz Weißflog

Hansi-Christiane Merkel, Angelika Weirauch (Hg.): Das halbe Leben ganz
biografie Verlag ruth damwerth, books on demand, 18,90 Euro