Ein beredtes Lehrstück für die Gegenwart

Interview zum Buch "Fremde Eltern: Zeitgeschichte in Tagebüchern und Briefen 1933–1945"

Wie konnte es geschehen, dass gebildete, von christlichen Werten geprägte Bürgerkinder dem Nationalsozialismus verfallen? Nach wie vor eine Frage, die nach Antworten sucht. Besonders im Moment gerade wieder, da krude Weltanschauungen erneut regen Zuspruch verzeichnen. Joachim Krause war von 1982 bis 2010 Beauftragter für Glaube, Naturwissenschaft und Umwelt bei der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens, darüber hinaus Songtextschreiber für Ostrockbands wie Lift oder Panta Rhei. Im Nachlass seiner Eltern fanden sich Tagebücher und fast 2.000 Briefe, die Auskunft geben über die ideologische Verführbarkeit gewöhnlicher Alltagsmenschen. Unter dem Titel "Fremde Eltern" (Sax Verlag, nicht verbunden mit dem Stadtmagazin SAX) liegt das Material seit Herbst 2016 in einem Buch vor, das weder nach Entschuldigungen sucht noch verurteilen will, jedoch ein beredtes Lehrstück für die Gegenwart bietet.

Die Vorgeschichte liest sich, als sei ein gewiefter Marketingstratege zu Hochform aufgelaufen: Mehrere Kisten, die Jahrzehnte unbeachtet auf dem Dachboden des Elternhauses lagern, geben bei genauerem Hinsehen einen zeitgeschichtlichen Schatz preis. Vermutlich ist es aber tatsächlich so gewesen. Das musste sich gar niemand erst ausdenken, die Wirklichkeit war spannend genug.
Die Kisten gab es, und vieles spricht dafür, dass meine Eltern von ihrer Existenz noch wussten. Für uns als Kinder ist das auch kein großes Geheimnis gewesen, aber nichts, dem wir nennenswerte Beachtung geschenkt hätten. Das war Papierkram, Liebesbriefe, altes Zeug. Erst bei einer letzten Sichtung kurz vorm Wegwerfen zeigte sich, welche brisanten und verstörenden Dinge da drin stecken.

Weshalb glaubst du, dass die Kisten bei deinen Eltern noch nicht ganz in Vergessenheit geraten waren?
Zur Vorbereitung ihrer Goldenen Hochzeit hatten sie offenbar Briefe aus der Zeit vor ihrer Eheschließung hervorgeholt und gelesen. Wohl mehr aber, um sich einen Eindruck zu verschaffen, wie sie den jeweils anderen damals als Persönlichkeit erlebt hatten. Dass sie nebenher ein Stück Zeitgeschichte mitliefern und welchen Umfang das hat, das ahnten sie sicher nicht. Wahrscheinlich weiß ich jetzt weitaus mehr, als sie noch aus der Erinnerung hätten erzählen können.

Was, wenn es den Eltern gar nicht darum ging, die Kisten zu vergessen? War ihnen womöglich eher daran gelegen, dass der Inhalt für die Nachwelt erhalten bleibt.
Es kann sein, dass sie sich selbst noch mal in Ruhe damit beschäftigen wollten, wenn sie alt sind. Leider ist es nicht mehr dazu gekommen. Mein Vater behielt einen ausgewählten Jahrgang der Briefe bis zuletzt bei sich an seinem Alterswohnsitz. Was er nicht getan hätte, wenn ihm das nichts mehr bedeutet hätte. Bei meiner Mutter findet sich 1945 die Notiz, dass sie wieder Tagebuch schreiben will, damit ihr Sohn erfährt, in welch bewegten Zeiten sie gelebt hat. Das war an mich gerichtet. Mich gab es damals noch gar nicht, aber das lässt vermuten, dass die Tagebücher und Briefe für mich und meine beiden Geschwister bestimmt gewesen sein könnten. Dass das in Buchform für die Ewigkeit aufgehoben bleiben sollte, war bestimmt nicht vorgesehen. So eitel sind meine Eltern nicht gewesen. Sie schreiben zwar druckreif, Nachbesserungen sind kaum notwendig gewesen. Aber das war privat, und das sollte es bleiben. Hätten wir unsere Eltern fragen können, sie hätten sich mit Händen und Füßen gegen eine Veröffentlichung gewehrt.

Nun gibt es das Buch, was lehrt es uns?
Dass die Machtergreifung der Nationalsozialisten im Januar 1933 kein Zufall gewesen ist. Mehrheitlich empfand die deutsche Bevölkerung den Versailler Vertrag als Schmach und wollte dessen Korrektur. Nationalistisches Denken war weit verbreitet damals, überall in Europa. Judenfeindlichkeit, auch christlich untersetzt, galt seit Ende des neunzehnten Jahrhunderts als salonfähig. In diesem gesellschaftlichen Umfeld wittern Hitler und die Nationalsozialisten ihre Chance und ergreifen sie. Bekannt ist das natürlich, man weiß das alles. Trotzdem bin ich nochmals auf eine Art und Weise eingetaucht in diese Zeit, wie ich mir das hätte nie vorstellen können. Aber dann ist es doch erschreckend gewesen, wie selbst bürgerliche Kreise diesen Ideen verfallen sind. Mein Vater zum Beispiel. Bei der Abschlussfeier seines Abiturjahrgangs an der Fürstenschule in Meißen wird noch im April 1933 Felix Mendelssohn Bartholdy, ein jüdischer Komponist, gespielt. Es wird ein Psalm auf Hebräisch gelesen. In den folgenden Monaten aber wird mein Vater zurechtgeschliffen. Ende des Jahres ist er, zum Glück nur vorübergehend, ein begeisterter Nationalsozialist.

Ein Rätsel bleibt es dennoch, wie das ideologische Gift derart wirken konnte. Deine Mutter, die Tochter eines Arztes, hatte Abitur. Dein Vater, Sohn eines Gymnasiallehrers, studiert Theologie, um Pfarrer zu werden!
Deutschland hatte zweifellos leidvolle Jahre hinter sich, und dann kommt jemand, der verspricht, dass es besser wird. Wenn auch auf Pump, der wirtschaftliche Aufschwung war kreditfinanziert beziehungsweise der militärischen Aufrüstung geschuldet. Und wer nicht zu den Opfern gehörte, wer kein Jude, kein standhafter SPD-Anhänger, kein Kommunist war, dem ging es wirklich besser. Die Niederschriften meiner Eltern belegen eine enorme Aufbruchsstimmung. Zunächst jedenfalls, bei meinem Vater ändert sich das, als er zur Wehrmacht eingezogen und zum Feldzug gegen die Sowjetunion abkommandiert wird. In seinen Briefen von der Front berichtet er unter anderem von Gräueltaten gegen Juden, an denen er hoffentlich nicht beteiligt war. Von meiner Mutter wird das in den erhaltenen Briefen nie aufgegriffen. Sie schreibt noch am 8. Mai 1945 in ihrem Tagebuch, von den schlimmen Dinge, die jetzt bekannt werden, hätte Hitler nichts gewusst, hätten die meisten Deutschen nicht gewusst.

Denkst du, Menschen reagieren einfach so, wenn entsprechende Rahmenbedingungen vorliegen?
Ja, und man darf nie vergessen, wie Donald Trump jetzt in den USA oder ähnlich beim Brexit-Votum der Briten, ist auch Hitler das Ergebnis demokratischer Wahlen gewesen. Mit um die vierzig Prozent befand er sich in einer komfortablen Situation, errang aber bei keiner Gelegenheit eine absolute Mehrheit. Es bedurfte jeweils der Steigbügelhalter, die dachten, den bändigen wir schon. Auch das Ermächtigungsgesetz wurde mit Zustimmung von anderen Parteien installiert. Die parlamentarische Demokratie entmachtete sich damit selbst. Viele glaubten, das wird schon nicht so schlimm, bis es zu spät war. Aber das sind Situationen, da bin ich vorsichtiger geworden. Ich habe in dieser Zeit nicht gelebt und frage mich manchmal, worauf ich mich eingelassen hätte. Als mein Großvater 1933 notgedrungen in die NSDAP eintritt, waren gerade eben zwei seiner Lehrerkollegen mit Nähe zur SPD aus dem Schuldienst entlassen worden. Der Mann hatte einfach Angst, dass er seine Familie nicht mehr ernähren kann und seinen geliebten Lehrerberuf aufgeben muss. Wer sich nicht von Anfang an verweigert hat, für den war es ungleich schwieriger, zwischendrin auszusteigen.

Würdest du sagen, die Geschichte könnte sich doch wiederholen?
Mich irritiert schon sehr, dass schon wieder Parolen verfangen, von denen man annahm, mit einigermaßen Schulbildung wären wir gewappnet dagegen. Bis ich in die Briefe und Tagebücher meiner Eltern eingestiegen bin, war ich fest davon überzeugt, dass wir dazugelernt haben: Wir wollen nie wieder Krieg, wir sind tolerant, wir sind weltoffen. Wir akzeptieren andere Meinungen. Differenzen klären wir im Gespräch. Das kann hart sein, aber man muss das nicht mit Gewalt auf der Straße austragen. Und zunehmend merke ich, dass das eine trügerische Hoffnung war. Es bedarf bloß einer Situation, die von breiten Bevölkerungsschichten als kritisch empfunden wird. Wobei das, was wir derzeit erleben, bei weitem nicht vergleichbar ist mit dem, was sich vor 1933 in Deutschland abgespielt hat.

Das Erstaunliche ist, dass du, aufgewachsen in der DDR, stets auf kritischer Distanz zum Arbeiter- und Bauernstaat geblieben bist. Du und deine Familie, ihr habt euch eben nicht vom politischen System vereinnahmen lassen. Das wäre nicht unbedingt zu erwarten gewesen bei der Biographie deiner Eltern.

Ich bin 1946 geboren und habe meine Eltern ganz anders erlebt. Als misstrauisch gegenüber staatlicher Autorität. Nach wie vor sind sie keine Widerstandskämpfer gewesen, aber deutlich in Opposition zur DDR gegangen. Sie verboten uns Kindern, Mitglied bei den Jungen Pionieren und bei der FDJ zu werden, was auch damit zu tun hatte, dass mein Vater Pfarrer war. Bei uns zu Hause wurde offen politisch diskutiert, es gab keine Tabus, von wegen, das lassen wir lieber, darüber reden wir nicht. Wir bekamen Toleranz vorgelebt, ich kann mich an keinen irgendwie fragwürdigen Halbsatz gegen Juden oder Ausländer erinnern. Meine Geschwister und ich sind von unseren Eltern zu mündigen Bürgern erzogen worden. Hätte ich mit siebzehn um den Inhalt ihrer Tagebücher und Briefe gewusst, ich hätte vielleicht die Türe zugeknallt und wäre ausgezogen. Den Enkelkindern, von denen sich meine Eltern auch kritische Fragen gefallen lassen mussten, hätte meine Mutter wohl nicht offenbaren wollen, wie sie früher gedacht und geschrieben hatte.

Auch deine Songtexte wie das "Am Abend mancher Tage" für Lift oder "Über mich" für Panta Rhei, sind zutiefst humanistisch!
In meinen Texten beschreibe ich eine Welt, die ich mir gewünscht hätte. Ich denke, das darf man, und vermute, meine Eltern wünschten sich 1933 auch bloß eine bessere Welt. Sie kannten das Ende nicht. Wir betrachten das immer von heute aus und geben uns furchtbar gescheit. Man kann nur hoffen, dass Aufklärung doch etwas bringt. Es steht nicht alles zum Guten, gar keine Frage. Aber die Demokratie ist die beste Gesellschaftsform, die wir derzeit haben.
Bernd Gürtler

Fremde Eltern: Zeitgeschichte in Tagebüchern und Briefen 1933–1945 von Dr. Michael Krause (Hrsg.), Sax-Verlag