Mehr Däumchen gedreht als sonst

Achim Reichel nach mehrmaliger, pandemiebedingter Tourverschiebung am 13. März im Alten Schlachthof

Foto: Hinrich Frank und Matti Klank

Es sollte längst Schluss sein mit den Konzerttourneen. Aber dann wurden wegen überwältigender Nachfrage doch weitere Tourtermine gebucht, die wegen Corona ein Jahr ums andere verschoben werden mussten. Nun wird es klappen, zehn Konzerte in Bandbegleitung sind vorerst veranschlagt und unter das Motto "Jetzt oder nie" gestellt. Eine telefonische Interviewverabredung ergab, wie Achim Reichel sich während der pandemiebedingten Lockdowns die Zeit vertrieben hat und was es ihm bedeutet, dass sein Megagassenhauer "Aloha Heja He" neulich zur ersten deutschsprachigen Nummer Eins in China avancierte.

SAX: Wie kam es, dass du die Konzerttourneen vorerst doch noch nicht aufgeben wolltest?
Achtim Reichel: Die letzte Tour war so erfolgreich, dass mein Touragent Karsten Jahnke sagte, Achim, du kannst noch nicht aufhören! Manche deiner Anhänger folgen dir seit Jahrzehnten, sind mit dir alt geworden, obwohl du nie monothematisch unterwegs gewesen bist. Mit den Rattles warst du ein westdeutscher Beatpionier der ersten Stunde, hast mit A.R. & Machines psychedelischen Krautrock in die Welt gezaubert, Shantys und Literaturklassiker von Goethe und Fontane verrockt, bevor eigene Songs entstanden sind, angeregt durch Dichterschriftsteller Jörg Fauser. Später kamen zeitgenössische Volksliedadaptionen dazu, und dein Publikum ist dir treu geblieben. Du kannst jetzt nicht einfach sagen, danke, das war's! Okay, dachte ich, dann gehen wir 2020 in die Verlängerung. Die Planung war komplett, als es mit Corona richtig losging. Zuerst hofften wir auf 2021, dann 2022, und jetzt haben wir 2023.

SAX: Womit konntest du die unfreiwilligen Auszeiten während Corona überbrücken? Was hat dich beschäftigt?
Achtim Reichel: Natürlich war ich in Sorge, dass ich aus meiner Musikerroutine völlig rauskomme. Aber noch 2020 erschien bei Rowohlt meine Autobiographie "Ich habe das Paradies gesehen", die Buchveröffentlichung ging mit einem Auftritt beim Hamburger Harbour Front Literaturfestival einher. Danach ging ich daran, die Aufnahmen von A.R. & Machines aus der Hamburger Elbphilharmonie aufzubereiten. Das war ein schier unglaublicher Abend, unsere erweiterte Komplettaufführung 2017 des Albums "Die grüne Reise". Mit dieser Musik bin ich zum ursprünglichen Veröffentlichungszeitpunkt vom Hof gejagt worden. Die Musikzeitschrift Sounds schrieb damals, glaubt dem Mann nichts, das ist ein verlogenes Machwerk. Ich für meinen Teil war überzeugt, das erste Mal eine Musik am Wickel zu haben, von der keiner sagen konnte, naja, schön und gut, aber das klingt wie Band Sowieso, und das sind die Echten. Es war eine Musik, die Ambient und Trance vorwegnahm. Ich fand das toll und dachte, irgendwann werden es die anderen auch begreifen. Dass das Begreifen so lange dauern würde, hätte ich nicht gedacht. Als fünfzig Jahre nach Erscheinen der "Grünen Reise" der Konzertmitschnitt "71/17 Another Green Journey (Live At Elbphilharmonie Hamburg)" eine Woche nach Veröffentlichung in den deutschen Albumcharts unter die Top Twenty kam, dachte ich, mit dem Thema hattest du noch eine Rechnung offen, traumhaft, wie das ausgegangen ist! Ansonsten habe ich während Corona mehr Däumchen gedreht als sonst.

SAX: Sind neue Songs entstanden?
Achtim Reichel: Die eine oder andere Skizze, sicher. Aber ich überlege, ob ich überhaupt noch was machen sollte und wenn ja, was das sein könnte. Die Leute bei der Plattenfirma denken natürlich marktorientiert. Sie meinten, Achim, sag' mal, der Rod Stewart hat doch mehrere Alben mit amerikanischen Songklassikern eingesungen. Oder Johnny Cash, seine letzten Alben, produziert von Rick Rubin, wäre so was nicht interessant für dich? Das wäre tatsächlich interessant, aber es fehlt an Material. Was soll ich singen? Schlager? Chanson? Eine populärmusikalische Kontinuität fehlt uns. Deutsche Musikgeschichte aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg besteht aus Operettenmelodien. Amerikaner und Briten hatten damals schon richtig geiles Zeug. Außerdem bin ich Rocker, wo genau könnte ich in meiner eigenen Kulturgeschichte anknüpfen? Also habe ich dankend abgelehnt und stattdessen viel gelesen.

SAX: Was gelesen?
Achtim Reichel: Alte deutsche Dichter und Denker, das sind teilweise richtige Hippies gewesen. Ich bin nicht der Einzige, der das so sieht. Schiller, das war ein Dichterphilosoph, was mir bislang nicht klar war. Schiller, Goethe, den gesamten Schopenhauer habe ich mir gegönnt in der Zeit als nix los war. Oder Hölderlin! Wahnsinn, das war auch eine Phase des Aufbruchs.

SAX: Im Dezember 2021 ging dein "Aloha Heja He" in China auf TikTok viral. Das kam sicher auch überraschend?
Achtim Reichel: Absolut! Ich stand vor mir selbst und dachte, Mensch Alter, wie hast du das denn hingekriegt! Man versucht in solchen Situationen für sich selbst herauszufinden, wie es dazu kommen konnte. Es war nämlich keineswegs so, dass ich vorgehabt hätte, den Song aus "Melancholie und Sturmflut" als Single auszukoppeln. Wäre das der Plan gewesen, hätte ich die Gonokokken weggelassen und keine Matrosen am Mast erwähnt. Das ist Seemannssprache. Beim NDR in Hannover gehört der Song noch heute zu den häufigsten Hörerwünschen und mindestens genauso oft beschweren sich Anrufer hinterher, was die Ferkelei in der letzten Strophe soll. Aber wunderbar, dass das in Deutschland ein Hit werden konnte! Und drei Jahrzehnte später ein Hit in China! Mittlerweile erreicht mich Fanpost von dort. Ich bekomme bunte Briefumschläge mit chinesischen Schriftzeichen. Plötzlich wollen chinesische Medien Interviews mit mir führen. Und die Videos, die auf TikTok zu sehen sind! Ich saß bei mir in Hamburg und dachte, Achim, das betrifft dich! Für mich ist das ein Geschenk des Himmels! Die Sache ist natürlich die, in China gibt es keine Gema. Aber Glück im Unglück, mein Schallplattenlabel BMG unterhält eine Niederlassung in Peking. Mit einer Reihe von Einzelvereinbarungen gelang es, dass doch etwas Geld eingespielt wird. Ein schöner Bonus!
Bernd Gürtler

Achim Reichel 13. März, 20 Uhr, Alter Schlachthof, www.achimreichel.de