Trauerbewältigung und das Zwischenmenschliche

Balbina hat ein neues Album veröffentlicht, es heißt "Infinity Tunes"

Der Albumtitel zu hochgegriffen? Mitnichten, eher ein raffiniertes Ablenkungsmanöver, was die eigentlichen Themenschwerpunkte angeht, welche unter der Überschrift "Infinity Tunes" aber sehr wohl treffsicher zusammengefasst sind, ergab die Interview-Verabredung zum cybersax-Gespräch mit Balbina in Berlin.

SAX: Glückwunsch zu "Infinity Tunes", ein wunderbares Album! Wie kriegst du es bloß immer wieder hin? Was ist dein Geheimnis?
Balbina: Ich fürchte, es gibt kein Geheimnis. Mich eint mit anderen Künstlern, dass ich versuche, meine emotionale Innenwelt nach außen zu spiegeln, so dass das Publikum nachvollziehen kann, auf welcher Reise ich mich gerade befinde. Wenn sich eine Verbindung herstellt, ist viel erreicht. 

SAX: Diesmal lässt du nicht lange rätseln, wohin dich deine Reise momentan führt. Der Eröffnungssong zu "Infinity Tunes" heißt "Vatertag" und handelt nicht etwa von einem missglückten Ausflug an Himmelfahrt, sondern vom Tod deines Vaters. 
Balbina: Man könnte sagen, "Vatertag" war der Anstoß, aus dem heraus sich die übrigen Songs des Albums ergaben. 

SAX: "Vatertag" enthält die Textzeile "Der Tag, an dem mein Vater starb, war ganz normal". Eine unbedingt zutreffende Feststellung. Das tragische Ereignis, das einem widerfährt, lässt die Welt drumherum in der Regel vollkommen ungerührt. Das Leben geht weiter wie gewohnt, bloß für einen selbst nicht. 
Balbina: Stimmt. Hinzu kommt, dass ich von dem Tag spreche, an dem ich vom Tod meines Vaters erfuhr, auf Umwegen über ein amtliches Schreiben. Und dort stand auch nicht, wir bedauern, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Ihr Vater gestorben ist, aufrichtiges Beileid. Es war ein stinknormaler Tag, im Briefkasten die Behördenpost, und ich dachte: Was passiert hier gerade.

SAX: Eine zweite markante Textzeile in "Vatertag" lautet, "Der Tag an dem mein Vater starb, war der Tag, an dem es plötzlich einen Vater gab." Angesichts seines Ablebens ist dir bewusst geworden, dass du überhaupt einen Vater hattest! 
Balbina: Richtig, durch das einschneidende Ereignis stand mir vor Augen wie lange nicht, dass es ihn gab, weil wir eine eher dysfunktionale Beziehung hatten, die wenig Kommunikation beinhaltete. Man fragt sich in dem Moment, woher die überwältigende Trauer kommt, und weiß nicht recht, wie damit umgehen. Aber es ist die Trauer über das, was man sich gewünscht hätte, was aber nie eintrat und sich nie mehr nachholen lässt. Es besteht keinerlei Möglichkeit mehr, irgendetwas aufzuarbeiten, irgendetwas zu kitten, irgendetwas besser zu machen. Ich denke, das gesamte Album dient der Bewältigung meiner Befindlichkeiten auf verschiedenen Ebenen. 

SAX: Wenn jemand stirbt, egal, ob derjenige einem persönlich nahestand oder nicht, bekommt dessen Leben etwas Endgültiges. Plötzlich fügt sich vieles, ergibt einen Sinn, erscheint logisch in der Rückschau.
Balbina: Hinterher weiß man es immer besser. Wenn ich überlege, mein Vater ist dann und dann gestorben, hätte ich vielleicht eine Woche zuvor den Weg zu ihm suchen sollen? Obwohl dieser Weg immer verschlossen gewesen ist?! Man muss die Endlichkeit der Dinge akzeptieren. Empfindungen, die ich wahrnehme, werden mit der Zeit schwächer, was auch etwas Befreiendes hat. Ich weiß, ich werde meinen Frieden finden. 

SAX: Ist dein Vater aus deinem Leben verschwunden, nachdem ihr aus der Volksrepublik Polen, wie das Land damals noch hieß, nach Westberlin übersiedelt seid?
Balbina: Danach, ja. Ich war fünf oder sechs. 

SAX: Du bist in Warschau geboren und drei Jahre alt gewesen bei eurer Ankunft in Westberlin. So wird es jedenfalls bei Wikipedia vermerkt.
Balbina: Korrekt.  

SAX: Dein Song "Zwischen zwei Welten" von "Infinity Tunes" lässt anklingen, wie es gewesen sein muss, als junger Mensch aus dem Ostblock verpflanzt nach Westberlin. 
Balbina: Ich konnte damals noch keine drei geraden Sätze sprechen, geschweige denn, dass ich über politisches Wissen verfügte. Das Einzige, was bei mir hängenblieb, war das Gefühl im Transit von einem Land ins andere. Für mich war das immer mit Angst verbunden, ganz gleich, ob von Westberlin nach Ostberlin, von Ostberlin nach Polen, von Polen zurück nach Ostberlin und Westberlin. Das Unbehagen, das ich verspürte, ließ mich erkennen, dass ich keinem der geografischen Flecken zugehörig bin. Ein Gefühl, das sich einprägen sollte. Als Kind wusste ich nichts über den Ost-West-Konflikt, was der Westen, was der Osten, was Polen, was Deutschland ist. Ich wusste nur, ich gehöre in den Transit. Spätestens seit "Terminal", dem Spielfilm mit Tom Hanks in der Hauptrolle, wissen wir, dass der Transitbereich kein Wohlfühlort ist. 

SAX: Seid ihr häufiger gependelt?
Balbina: Nicht inflationär oft alle zwei Wochen oder so, aber doch relativ oft, da meine Mutter früh alleinerziehend war und ich die Ferien in der Regel bei den Großeltern verbrachte. Deshalb gab es häufige Transits bereits vor dem Mauerfall. Die Transits danach beziehungsweise vor der Zollunion, vor dem Schengen-Abkommen, sind noch etwas ganz anderes gewesen. Heute ist das kein Thema mehr, damals war es der Horror. Die Kinder der Achtziger- und Neunzigerjahre wissen, wie unangenehm das war. Man fuhr an die Grenze und wusste, gleich gibt es Stress. Man wird verdächtigt, jemand hat einem vielleicht etwas untergejubelt, und schon drohte Knast. Das war nicht ohne. 

SAX: Furchteinflößend waren die Grenzübertritte deshalb, weil Unkalkulierbares passieren konnte?
Balbina: Ja, natürlich. Meiner Mutter wurde mehrmals der Grenzübertritt verwehrt. Es gab Zeiten, in denen ihr alles, was sie an Orangen, Kaffee und dergleichen dabei hatte, weggenommen wurde. Sie wurde zur Leibesvisitation eskortiert, ihr wurde in den Mund geschaut. Beängstigend für mich als Kind war diese Willkür, du darfst hier rein, du darfst hier nicht rein, wir nehmen dir alles weg. Dokumentarisches Filmmaterial zeigt die Autoschlangen an den Grenzübergängen. Wir mussten Stunden warten, Grenzbeamte schauten mit Spiegeln unter die Autos. Wenn wir aus der Bundesrepublik zurück nach Polen gereist sind, ließen uns die Polen merken, dass sie uns für Verräter hielten. Die Deutschen fragten sich, wieso fahren die zurück nach Polen? Ziemlich hässlich, das alles. 

SAX: "Zwischen den Welten" erwähnt auch deine Erstbegegnung mit verschiedenen Segnungen des Westens wie Coca Cola und McDonalds.
Balbina: Das war im Westberliner Europa Center. Ich erinnere mich an eine Situation, die meine Mutter bestätigen könnte. Wir sind zur Toilette gegangen und damals sind um den Bahnhof Zoo in unmittelbarer Nachbarschaft noch viele drogenabhängige Menschen anzutreffen gewesen. Auf der Toilette begegnete uns eine Frau, die verzweifelt nach einer Ader suchte, um sich einen Schuss zu setzen. Das war mein Ankommen in Westberlin, diese Frau in der Toilette. Mein erster Eindruck von Westberlin war nicht, oh toll, Coca Cola und Juniortüte bei McDonalds, sondern diese heroinabhängige, zerstörte Person. Ein echter Schock. 

SAX: Bei dir als gebürtiger Polin, aufgewachsen in Westberlin, würde es nicht wundern, wenn du von Ausgrenzung und Vorurteilen berichten könntest. 
Balbina: Das gab es. Nicht nur, aber auch. 

SAX: Die bemerkenswerte Kehrseite ist, dass du, aus einer anderen Muttersprache kommend und dank deiner Transiterfahrungen, ein besonderes Verhältnis zur deutschen Sprache entwickeln konntest. 
Balbina: Auf jeden Fall. Ich denke, dadurch, dass ich ab der zweiten Klasse im Förderunterricht war, als Nichtmuttersprachlerin ein besonderes Interesse entwickeln konnte, was sprachliche Möglichkeiten im Deutschen betrifft. Ich weiß noch, wie mich damals fasziniert hat, dass man im Deutschen so lange Worte bilden kann. Das geht im Polnischen nicht. Sprache hat mich immer interessiert, Sprache generell, weil Sprache Realität schafft. Deshalb bedeutet die Realität woanders eine andere, wegen der Sprache. 

SAX: Das Phänomenale deiner Songs ist, wie du Sprache einsetzt und dadurch das Wesen der Dinge greifbar machst. Auf deinem Vorgängeralbum "Punkt" heißt ein Song "Langeweile", und dein Publikum bekommt einen Eindruck davon, wie sich Langeweile anfühlt. 
Balbina: Das ist etwas, das mir aus dem Transit mitgegeben wurde.

SAX: Die Sprache auf "Infinity Tunes" wird aber eher erzählerischer eingesetzt, oder?
Balbina: Ja, erzählerischer und autobiografischer ist das Album tatsächlich auch. Es gibt keine fünfte Metaebene, keine schrecklich schlauen Metaphern. Es ist direkter, weil es um die Verarbeitung konkreter Sachverhalte geht. Nicht immer, aber häufiger als auf dem letzten Album. Wobei, auf dem vorletzten Album hatte ich schon dieses "Unterm Strich", dort bin ich auch autobiografischer gewesen. Das gab es hin und wieder, diesmal aber schwerpunktartiger als zuvor. 

SAX: Was sind neben der Trauerarbeit die anderen Themen von "Infinity Tunes"? Das Zwischenmenschliche allgemein, wie es scheint?!
Balbina: Das Zwischenmenschliche, Freundschaften, das Leben, wie man versucht, Dingen hinterherzulaufen und sich dabei selbst zu sehr in die Zukunft verlagert. Anstatt den Augenblick zu genießen oder sich das leckere Essen schmecken zu lassen, das vor einem auf dem Tisch steht. Die Endlichkeit, die mir durch den Tod meines Vaters bewusst geworden ist, macht mich melancholisch. Ich weiß jetzt, dass ich vergänglich bin und das Unausweichliche geschehen wird. Gleichzeitig ist das der Beginn einer neuen Freiheit, weil ich mir sage, jetzt genieße doch die Gegenwart, versuche nicht alles zu planen, lebe endlich. Das ist das, was das Album ausmacht. Es gibt ein Buch zum Album, in dem ich die Songs bebildere und mir selbst deutlich mache, wenn ich singe "Und wir ducken uns weg", was das über den Selbstwert aussagt, den ich im Transit verspürte. Man hat sich weggeduckt und versucht, sich unsichtbar zu machen. Heute bin ich mutiger, heute ducke ich mich nicht mehr weg. Meine Reise macht mir Mut, die nächste Sprosse auf meiner Leiter ist erklommen. 

SAX: Welchem Endpunkt strebt die Leiter entgegen? Was ist das Ziel?
Balbina: Das Ziel ist, dass ich meine Reise fortsetzen kann, weiter Musik machen, weiter gestalten kann; meine Reise durch mein Selbst, durch die Welt, durch den Alltag, um mehr Gegenwart erleben zu können. 

SAX: Sind die Songs von "Infinity Tunes" über oder für die Unendlichkeit geschrieben?
Balbina: Beides, am Schluss singe ich im Titelsong, dass ich mit meiner Stimme auf dem Song drauf bin. Sogar wenn ich nicht mehr bin, wird der Song noch da sein, im digitalen Äther für immer und alle Ewigkeit.
Bernd Gürtler 

Balbina: "Infinity Tunes" (Polkadot; erschienen am 16. Mai 2025 ausschließlich digital, einzige physische Komponente ist das Buch mit den Illustrationen unter dem Titel "Infinity Times")
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