Alle Jahre wieder

Wie der Sieg der Unvernunft schon wieder Weihnachten versaut

Man soll sich nicht selbst loben, das hat schon meine Oma gesagt. Sie meinte aber auch: Ehre, wem Ehre gebührt. Da darf man also durchaus in aller Bescheidenheit sagen, dass der Terminal, der Veranstaltungskalender der SAX und – noch besser, weil aktueller – jener der CyberSAX und der App seinesgleichen sucht in der Region. Von der Semperoper bis zum Eselsnest ist fast alles zu finden mit Adressen, Infos, Maps. Das Eintragen von Terminen in die Datenbank geht ruckzuck. Was sich wesentlich aufwendiger gestaltet, ist das Löschen von Daten, die einzeln entfernt werden müssen. An sich kein Problem, das kommt schließlich nur selten vor. Eigentlich. Doch am Abend des 19. Novembers geschah es zum dritten Mal: klick, klick, klick, klick … Mit jedem Move der Maus verschwand eine Theatervorstellung, ein Konzert, eine Vernissage, ein Film, ein Vortrag – bis der Kalender leer war, abgesehen von wenigen Onlineangeboten. Im 33. Jahr des SAX-Bestehens ist das die wohl frustrierendste Arbeit, die verrichtet werden musste. Aber was heißt schon »musste«?

Eine politisierte medizinische Situation
Es war Freitag, der 13. März 2020, als der Tod kam – allerdings nicht der grimmige Schnitter, sondern ein Comedian, der seinen richtigen Namen nicht in der Presse lesen will. In der Scheune begann im Rahmen des Festivals Humorzone um 23.59 Uhr seine »Geisterstunde«. Für den nachfolgenden Sonnabend waren bereits alle Veranstaltungen abgesagt, es galt der erste Corona-Lockdown. »Während alle jetzt ihre Aktivitäten in das zweite Halbjahr verlegen, ziehe ich die meinen jetzt vor«, piepste der Tod in seiner schwarzen Kutte; zudem war einer seiner Gäste ein Tatortreiniger, der aus professioneller Sicht zum Thema Desinfektion Tipps geben konnte. Der Saal hat gebrüllt vor Lachen. Und überhaupt: Die letzte Show in Dresden mit dem Tod. Wer konnte denn damals ahnen, dass … Ein Impfstoff und Mutationen waren nicht zu sehen, sich einschränken, Abstand halten, die älteren Mitmenschen schützen galt schon bald als erste Bürgerpflicht. Viele, ja die meisten, hatten ein Einsehen in dieser Situation. Aber schon damals, im März und April 2020, gab es den anschwellenden Gesang derer, die ihre Stunde für gekommen hielten. In einer Situation, die noch von Verunsicherung und Faktensuche geprägt war, hatte eine Front aus Esoterik, Verschwörungsglauben, Rechtsradikalismus und Rassismus sofort »alternative« Fakten parat. Wie entmenscht die Diskussion geführt wurde, zeigt ein sehr oft auftauchendes Argument: Das betrifft nur die Alten, die wären doch sowieso gestorben. Und sie alle, die AfD, die Querdenker, die Besorgten bekamen ausführlich TV-Zeit und Druckzeilen, um landesweit kundzutun, dass ihre Meinung unter­drückt werde in der Corona-Diktatur, es konnte demonstriert und kundgegeben werden wider das Merkel-Regime, das alles verbietet. Das Wahrnehmen der Meinungsfreiheit und das gleichzeitige Negieren ihrer Existenz ist ein Widerspruch, den man nicht auflösen kann.

Dabei ist die Sachlage nicht so kompliziert. Wir haben eine Pandemie in mittlerweile über 190 Ländern der Erde bei etwa 256 Millionen infizierten Menschen, von denen über 5 Millionen gestorben sind. Es ist wichtig, dass man sich das globale Geschehen immer wieder vor Augen führt, weil der eigene Tellerrand oftmals zur Ich-Bezogenheit führt. Es gibt also auf der einen Seite eine schwierige medizinische Situation. Auf der anderen Seite gibt es den menschlichen Umgang damit. Und die Politik, mit ihr das Problem der Politisierung dieser medizinischen Situation. Der Regierung fällt nun die Aufgabe zu, die Bevölkerung vor einem Virus – so gut es geht  – zu schützen. Und auch die Opposition sollte sich daran beteiligen, Konzepte entwerfen, die möglicher­weise besser sind oder auf die Mängel der Entscheidungsmehrheit hinweisen. Doch vor allem von rechts, angeführt von der AfD, wurde das Thema Corona aufgeladen mit Unwahrheiten, Halbwahrheiten, wurde Wissenschaft negiert und ignoriert, wurde verharmlost und gelogen. Warum? Weil eine Bundestagswahl anstand, und die Meuthens und Weidels kein Thema hatten. Also transportierte man das »Querdenken« kurzerhand ins Parlament, um es salon- und TV-fähig zu machen: Wer gegen die Regierung ist, der muss auch die Corona-Maßnahmen ablehnen. Es braucht keine hohe Mathematik, um festzustellen, dass die Verkettung einer grassierenden Krankheit mit politischem Machtstreben Menschenleben gefordert hat. Und fordert. Aber schiebt man all das Getöse und die Diskussionen zum Thema beiseite, bleibt am Ende noch immer dieses davon vollkommen unbeeindruckte Virus Covid-19. Und es ist gekommen, um zu bleiben.

Immer wieder zu spät
Und es war Sommer. Die Coronazahlen sanken in den Keller. Doch schon im Juli und August warnten Fachleute sowie einige wenige aus der Politik: Der Winter wird schlimm. Aber in den meisten Bundesländern, so auch in Sachsen, herrschte Aufbruchsstimmung – bis im Oktober die Infektionszahlen in die Höhe schossen und im November ein neuer Lockdown kam. Wohlgemerkt: im November 2020. Dass vor einem Jahr alle Vorhersagen der Mahnenden eingetreten sind und übertroffen wurden – inklusive Tausender Todesopfer –, hätte 2021 vielleicht einen Lerneffekt auslösen können. Aber mit Impfstoffen als Hoffnungsträger und einer maßlos überschätzten Piksbereitschaft im Volke, schritt man offenen Auges in Stadt und Land einmal mehr in die Falle und muss nun aus dem Panikmodus heraus regieren und reagieren. Panik ist jedoch nie ein guter Ratgeber.

Dass es gerade in Sachsen wie auch Dresden besonders schlimm läuft, muss nicht verwundern. Von König Kurt in den Rang eines auserwählten Volkes erhoben, sehen sich viele Einheimische noch heute als höhergestellte Wesen. Da kann doch kommen wer will – wir wissen es besser. Es ist diese Haltung, befeuert hier vor allem vom rechten Rand, die immer wieder anzutreffen ist. Virologen so viele wie Bundestrainer. Jeder kennt einen Arzt oder eine Ärztin, hat direkte Kontakte in die Kliniken oder einen Schwippschwager, der als Pfleger arbeitet. Dass sich die Storys, vervielfältigt durch diverse digitale Kanäle, immer wieder gleichen und sich meist schnell als urban legends herausstellen, spielt keine Rolle. Widerlegt man ganz sachlich ein Argument, kommt die nächste Behauptung. Wichtigstes Wort: ich. Und es sind diese Ichs, vor denen die Politik in Sachsen immer wieder kapituliert. Man müsse Rücksicht nehmen auf die Sorgen, die Bedenken, die Zweifel.

Gleichzeitig treten die Sorgen jener Menschen komplett in den Hintergrund, die sich aus wissenschaftlicher (oder wirtschaftlicher) Überzeugung heraus impfen ließen. Mit dem Piks gibt es die Freiheit zurück, hieß einmal der Slogan der Stunde. Und wieder wurden schon im Sommer jene Stimmen überhört, die zeitig erkannten, dass dieser Weg ein schwerer wird.

Als Ende August die Klubs objekt klein a und Gisela begannen, die 2G-Option zu ziehen, galten sie vielen als die Superbösen. In Wirklichkeit waren sie Vorreiter – nur Wochen später war 2G der Veranstaltungsstandard. Wenn schon damals diese Herangehensweise, optimiert mit 2G+ und verbunden mit einer Impfkampagne für die Jüngeren, das Maß des Handelns gewesen wäre, ständen wir wahrscheinlich besser da. So aber wurde in vielen 3G-Events das Virus herumgeschleppt, Kontrollen waren eher mangelhaft, während sich kleinere Läden wie etwa das Ostpol, die GrooveStation oder das Alte Wettbüro nach Kräften mühten, 2G umzusetzen. Überhaupt entwarf das Klubnetz Dresden mit der sächsi­schen Initiative LISA immer wieder Konzepte zur sicheren Durchführung von Veranstaltungen. All das blieb ungehört, verrauscht, verloren. Die Verweise, dass es auch bei Kulturveranstaltungen Infektionen gab, verschwiegen alle, dass das nicht auf Partys oder Konzerte zutrifft, die mit 2G+ veranstaltet wurden. Ein Gespräch der sächsischen Politik mit der Klubszene fand schließlich erst statt, als alles beschlossen war. Ein fatales Zeichen gerade für junge Menschen, die im Lockdown den Freiheitsgrund zum Impfen ad absurdum geführt sehen.

Die Bratwurst hat gesiegt
Nun ist wieder alles zu. Bis zum 12. Dezember oder länger. »Der Weihnachtsmarkt wird abgebaut, die Bratwurst hat gesiegt«, sangen einst Hans-Eckart Wenzel, Steffen Mensching, Dieter Beckert und weitere herrlich Verrückte in der grandiosen Hammer-Rewüh. Und ja: Die aufgebauten Märkte verschwinden. So mancher macht sich darüber lustig, weil Striezelmarkt & Co. sowieso doof sind. Doch auch das sind Existenzen, die leichtfertig aufs Spiel gesetzt wurden, weil die regional Regierenden das Unaussprechliche nicht aussprechen wollten. Dabei war spätestens Mitte Oktober klar, dass man die Weihnachts­märk­te absagen muss. Kein Tempo beim Impfen, kaum Zuwachs beim Interesse dran. Boostern? Machen wir irgendwann. Impfzentren werden geschlossen. Mahnende Meinungen? Who cares. Stadtfest? Ging doch.

Am Ende bleibt: Die Bratwurst hat gesiegt als Synonym für all die Stammtische und Grüppchen, die sich als Minderheit überlegen fühlen, und für die ein weltweiter wissenschaftlicher common sense nichts weiter ist als eine Verschwörung dunkler Mächte. Ja, dieser dritte Lockdown ist ein Triumph der Corona-Leugner:innen, denn sie haben es geschafft, wirklich alle in das neuerliche Elend mit hereinzureißen, weil von Kretschmer bis Hilbert genau das zugelassen wurde. Nun wird viel darüber geredet, beim Thema Corona verbal abzurüsten. Und ohne Frage tut das bitter not. Aber wer immer nur die Wut und den Hass der schwurbelnden Zweifler:innen ertragen soll, fragt sich irgendwann, wo er mit seinem eigenen Frust hin soll. Und warum diskutieren wir nach fast zwei Jahren Pandemie noch immer Basics wie den Unterschied zur Grippe oder das Thema Langzeitwirkungen einer Impfung? Auf dem MDR erregte sich jüngst ein Hörer mit dem Statement, er würde sich dem Impfen verweigern, bis der russische Sputnik-Stoff kommt, weil dessen Nichtzulassung eine rein politische Entscheidung sei. So weit, so absurd. Dass Landräte am Tag 1 des Lockdowns Demos mit Hunderten Demaskierten zulassen – ein Schlag in die Magengrube.

Ich hätte gern vieles gesehen wie das Focus Female Festival im Blue Note, die Cinderella«-Premiere in der Operette oder Die­ter Wischmeyer im Alten Schlachthof. Alles gelöscht, abgesagt, verschoben. Nur Der Tod sollte wieder in die Stadt kommen. Am 17. Dezember in die Schauburg. Ach nee, doch nicht. Abgesagt.
Uwe Stuhrberg