Beethovenjahr einmal anders

Kent Nagano kehrte nach Berlin zurück

Das deutsche Sinfonie-Orchester in Berlin wurde 1946 als RIAS Sinfonie-Orchester in West-Berlin von keinem Geringeren als dem großen Ferenc Fricsay gegründet. Auch die Liste seiner Nachfolger liest sich wie ein who-is-who der Dirigentenszene: Lorin Maazel, Riccardo Chailly und Vladimir Ashkenazy begründeten hier ihren Dirigentenruhm. Gleiches gilt für Kent Nagano, der von 2000 bis 2006 als Chefdirigent dieses Orchesters für das Orchester und sich selbst Lorbeeren erwarb, was ihm bei seinem Abschied den Ehrendirigenten dieses Orchesters eintrug.

Nagano ist seither Musikdirektor des Orchestre Symphonique de Montréal und seit 2015 Generalmusikdirektor der Hamburgischen Staatsoper und Chefdirigent des Philharmonischen Staatsorchesters Hamburg. Am 1. März kehrte er in die Hauptstadt zu seinem alten Orchester zurück. Auf dem Programm standen im Beethoven-Jahr keine Beethoven-Werke, sondern Sinfonien zweier romantischer Komponisten, die sich jeweils aus Scheu vor dem „Elefanten“ Beethoven erst zum Ende ihrer Schaffensperiode an das Genre Sinfonie herantrauten und mit den beiden Werken, Schumanns 3. Sinfonie und Brahms 1. Sinfonie deutliche beethovensche Einflüsse verarbeiteten.

Schumanns 3. Sinfonie, auch die „Rheinische“ genannt, ist eigentlich seine letzte, also 4. Sinfonie, weil er mit der offiziellen 4. Sinfonie bereits vor seiner 2. Sinfonie begonnen und diese wohl im wesentlichen auch vor Abschluß der 3. Sinfonie fertiggestellt hatte. Allein die Veröffentlichung erfolgte später, daher die Zählweise. Die „Rheinische“ verkörpert den inneren Widerspruch des einerseits schwermütigen, bereits von seiner Geisteskrankheit in ihren Anfängen heimgesuchten Sächsischen Komponisten (geboren in Zwickau mit Tätigkeiten in Leipzig und Dresden) und des sich an seiner letzten Wirkungsstätte Düsseldorf mit der rheinischen Leichtigkeit und ob der dort erfahrenen Wertschätzung glücklichen Mannes. Fernab seines schwierigen, in Loschwitz verbliebenen Schwiegervaters Friedrich Wieck blühte Schumann hier noch einmal kurzzeitig auf. Bereits der mitreißende, fast marschartige Beginn des 1. Satzes drückt mit dem Hauptthema dieses Satzes solche überschwengliche Freude aus. Auch im 2. Satz (ein mäßig zu spielendes Scherzo) findet sich als Hauptthema eine fröhliche Weise, die aber sanfter daherkommt (die gemütvolle Seite des Rheinländers?). Die Mischung von Menuettelementen mit Ländler-Melodien verraten die heimliche Patenschaft Beethovens. Die Sinfonie weicht vom üblichen Satzschema ab, indem sie nicht vier- oder dreisätzig ausgelegt ist, sondern fünfsätzig. Auf den 2. Satz folgt ein ebenfalls zartes Intermezzo als 3. Satz, bevor dann der feierlich angelegte 4. Satz bereits auf das Finale vorbereitet, wobei Anklänge an Kirchenmusik (Choral „Jesu meine Freude“) vernommen werden, angeblich inspiriert durch die Erhebung des Kölner Erzbischofs zum Kardinal im Kölner Dom. Die Sinfonie klingt aus in einem lebhaften 5. Satz mit Marschrhythmus und Trubel eines rheinischen Volksfestes. Dabei enthält dieser 5. Satz auch eine gedrängte Zusammenschau der Motive der bisherigen Sätze, frei nach dem Motto „Was bisher geschah“.

Brahms, von den Eheleuten Schumann bereits 1853 zum Komponieren einer Sinfonie animiert, hatte sich seither mit sinfonischen Skizzen beschäftigt und 1862 der von ihm verehrten Clara Schumann den ersten Satz seiner 1. Sinfonie, allerdings ohne die erst viel später hinzugefügte langsame Einleitung „un poco sostenuto“ geschickt. Es dauerte dann noch bis 1876, bis er das Werk für fertig und veröffentlichungswürdig befand. Die viersätzige Sinfonie enthält Anklänge an die beiden berühmtesten Werke des von ihm hochverehrten Beethoven. Die Haupttonart c-moll ist eine Anlehnung an die 5. Sinfonie Beethovens und Kantilenen im C-Dur-Thema des Schlußsatzes weisen Ähnlichkeiten zum Schlußchoral aus Beethovens 9. Sinfonie auf. Vor allem der erste Satz steckt voller Ideen und Haupt- und Seitenthemen. Dieser Herausforderung auch an den Zuhörer folgen quasi zur Entspannung zwei weniger umfangreiche Sätze mit zarter Instrumentation und liedhafter Melodik (Andante Sostenuto und Poco Allegretto). Der fulminante Schlußsatz beginnt wie der 1. Satz mit einer langsamen Einleitung, die das musikalische Material dieses Satzes bereits ankündigt. Ein tragisches Eröffnungsmotiv leitet über in einen jubelnden Posaunenchoral am Schluß. Eines der Themen dieses Satzes hatte Brahms bereits 1868 als Geburtstagskomposition an Clara Schumann geschickt. Er war dazu von in der Schweiz gehörten Alphornklängen inspiriert worden war. Der Horngesang wechselt sich mit dem Posaunenchoral ab, ehe dieser dann das dramatische Finale bestimmt.

Kent Nagano ließ sein Orchester detailliert und sauber musizieren. Perfektion stand ganz vorne in der Prioritätenskala und wurde bis auf den 4. Satz der Schumann-Sinfonie (bei den Bläsern) auch erreicht. Das Eröffnungsthema in der Schumann-Sinfonie geriet ein wenig sanfter als man dies gewohnt ist. Fast schon puristisch verschlankt floß der Rhein und nicht so mitreißend wie bei anderen Dirigenten. Dafür gewann die Durchhörbarkeit und Struktur der Sinfonie unter den Händen Naganos. Die Tempi waren ausgewogen und passten. Auch bei der Brahms-Sinfonie wurden alle Melodie-Bögen sauber herausgearbeitet. Die Anklänge an Beethoven waren ebenso hörbar wie die fast etwas den inneren Zusammenhang sprengenden vielfältigen Einfälle Brahms. Allerdings war auch hier die Interpretation eher nüchtern, vor allem verglichen mit der mustergültigen Interpretation beispielsweise eines Günter Wand. Insgesamt war es ein lohnender Konzertbesuch, zu recht gedankt durch stehende Ovationen des Publikums.
Ra.