Demokratie unter Polizeischutz

Die bevorstehende Kommunal- und Europawahl könnte ein Fest und kein Schlachtfeld werden

Dresden zeigt, wie´s geht! Die markigen Pegida-Sprüche gellen noch in den Ohren. Sie bekamen kurz nach dem Start des Plakatwahlkampfes zur Kommunal- und Europawahl am 9. Juni einen besonders makabren Klang. Die Rechtsdrift seit den 2010-er Jahren hat zwar in ganz Europa zu einer Barbarisierung der politischen Auseinandersetzung und zu einer Verpöbelung der Gesellschaft geführt. Aber Dresden muss eben zeigen, dass es noch einen Zahn schärfer geht, denn die generalfrustrierten Allesbesudler mit Nationalkomplex haben es zur „Hauptstadt der Bewegung“ erkoren.

Der SPD-Europaabgeordnete Matthias Ecke trug am 3. Mai zwar „nur“ Knochenbrüche im Gesicht davon und kehrte zwei Wochen später mutig in den Wahlkampf zurück. Die Prügelattacke auf ihn und parallel auf grüne Plakataufhänger aber wirkte über Dresden hinaus wie ein Fanal. Und warf einen Blick auf die Kielspur von AfD oder Freien Sachsen, in der Randgruppen wie die „Elblandrevolte“ schwimmen, zu der einer der siebzehnjährigen mutmaßlichen Täter gehörte. Die sich eigentlich als die Guten Wähnenden machten es auch nicht besser. Am Alaunplatz wurde ein AfD-Stand umgestoßen.

Reale Gefahr einer Zustimmungsdiktatur

Üble Vorzeichen für ein bevorstehendes Fest der Demokratie, als das freie Wahlen eigentlich gelten müssten. Wem nicht nach Feiern zumute ist und wer sonst auch nichts für die Gesellschaft tut, der oder die sollte zumindest ein Votum abgeben für unerschrockene Leute, die sich eine parlamentarische Volksvertretung überhaupt noch zumuten wollen. Aber das bedeutete ja eine Anerkennung des verhassten Systems!

Es war trotz oder wegen des empörenden Anlasses ein kleines Fest, dass sich nach dem Anschlag auf Matthias Ecke in weniger als 24 Stunden etwa 3 000 Bürger für eine Demonstration am Pohlandplatz mobilisieren ließen. Gegenseitige Ermunterung angesichts der schleichenden Erosion der Demokratie tut gut. Der meistgehörte Satz bei den Rednerinnen und Rednern aus Berlin und Dresden lautete „Wir sind mehr!“. Aber gerade dieser Trost wollte bei aller Selbstermutigung am Pohlandplatz nicht recht wirken.

Man trifft leider erschreckend viele Bürger, die nicht nur der Nazipropaganda willig auf den Leim gehen, sondern über die verbale Verrohung hinaus auch physische Übergriffe für einen legitimen Ausdruck des Volkszorns halten. So hat es vor knapp 100 Jahren auch angefangen. Ethische Fragen werden nicht mehr gestellt. Und die NSDAP hatte im Reichstag 1932 keine absolute Mehrheit, erreichte nur 37,3 Prozent der Sitze. Sie marschierte trotzdem durch und weiter, bis alles in Scherben fiel.

Der Politikwissenschaftler Claus Leggewie erinnert daran, dass die fürchterlichen Diktaturen des 20. Jahrhunderts allesamt „Zustimmungsdiktaturen“ waren, also keineswegs die Herrschaft einer autokratischen Minderheit über eine widerständige Mehrheit. Gemeint sind der italienische, deutsche und der Sowjetfaschismus. In diesen Wochen sollte das Anschauen des Films „Er ist wieder da“ von 2015 über die fiktive Rückkehr Hitlers Pflichtprogramm für alle werden. Und darin dreimal in slow motion wiederholt das Zitat: „Sie können mich gar nicht loswerden, ich bin ein Teil von ihnen!“ Dostojewski hatte schon tief in menschliche Erbärmlichkeit geblickt, als er in den „Brüdern Karamasow“ den Großinquisitor sagen lässt: „Nichts ist jemals für den Menschen und für die menschliche Gesellschaft unerträglicher gewesen als die Freiheit.“

Signale über Dresden hinaus

Nun muss man für Dresden nicht gleich das Menetekel einer lokalen Machtergreifung an die Wand des Fürstenzuges schreiben. Wir sind nicht in München wie vor 100 Jahren. Aber auch eine von Regionalgefühlen dominierte Kommunalwahl und die eher von Ferne und Anonymitätsempfindungen bestimmte Europawahl setzen Signale für die September-Landtagswahlen in drei ostdeutschen Ländern.

Aus der gewohnten Dresdner Schüsselboden-Perspektive geht es „nur“ um 70 Stadträte, aber im Mittelpunkt der Welt! In Dresden guckt schließlich die Erdachse raus. Für die zahllosen AfD-Jünger unter den SAX-Lesern deshalb der Hinweis: Bitte den AfD-Spitzenkandidaten für das Europaparlament Maximilian Krah nicht auf dem Stadtrats-Wahlzettel suchen, auch wenn er vor zwei Jahren hier mal Oberbürgermeister werden wollte. Der Retter des geliebten Vaterlandes, insbesondere seiner Männer, ist von schwarz-gelb längst Richtung gelb gewechselt.

Hauptstadt der Bewegung? Seit 2019 fiel die Hälfte des Dresdner Stadtrates unter die Beschimpfungsrubrik der Straßenrülpse „links-grün-versifft“. Die Bündnisgrünen mit 20,5 Prozent Stimmenanteil und 15 Sitzen (Sitz*innen) bildeten im renovierten Rathaussaal die stärkste Fraktion! Zudem Linke und AfD gleichauf mit je 12 Sitzen! Es genügt ein halber Löffel sächsischen Kaffeesatzes, um vorherzusagen, dass dieses sich dieses Kräfteverhältnis nach dem 9. Juni ändern wird. Umfragen für die Stadtratswahl gibt es nicht, aber Landtagswahltrends signalisieren eine Rechtsverschiebung.

Ändern dürfte sich damit auch das häufige Patt zweier schon an der Sitzordnung erkennbarer Blöcke im Stadtrat. Hier um die 35 zukunftsbesorgte Apokalyptiker von Grünen, Linken, SPD, Piraten, da die Allesmöglichstsolasser von CDU, AfD, FDP und Freien Wählern.

Personelle Dynamik im Stadtrat

An Dynamik fehlte es freilich auch im bisherigen Stadtrat nicht. Der Sitzplan vom Mai 2024 ist nicht mehr der von 2019. Naja, Holger Zastrow sitzt schon noch auf seinem Platz in Fensternähe mit Blick auf die Trümmerfrau, aber nicht mehr als der allmächtige Übervater der sächsischen und städtischen Liberalen. Man kann darüber spekulieren, ob sein Austritt aus der FDP wirklich mit dem Frust über einen Herrn Lindner und eine zu wenig sozialdarwinistische Bundes-FDP zu tun hatte.

Jetzt macht Zastrow auf Wagenknecht und gründete als Vorstufe für seine  Z-Partei das „Team Zastrow“. Wen entdeckt man dort? Unter anderem einen gewissen Steffen Große, Jahrgang 1967. Zunächst braves CDU-Mitglied und Pressesprecher des Sächsischen Kultusministeriums, dann sogar Staatskanzlei, zu den Freien Wählern gewechselt, dort nach einem Zerwürfnis 2020 ausgetreten, weil Große die Aufhebung aller Corona-Schutzmaßnahmen forderte. Dann bei dem weltbekannten „Bürgerlich-Freiheitlichen Aufbruch“, seit 2022 Bundesvorsitzender der noch bekannteren Partei „Bündnis Deutschland“. Passt doch!

Ähnlich spektakulär verlief im Jahr zuvor ein Abgang bei den Freien Wählern/Freien Bürgern. Die sind so doppeltfrei, dass die Bundesvereinigung der Freien Wähler wegen der vielen Rechtsausleger nichts mit dem Dresdner Separatistenverein zu tun haben will. Frank Hannig, ehemaliger Stasi-Zuträger und lange Zeit Lieblingsanwalt der Loschwitzer Buchhändlerin Susanne Dagen, wurde von seiner Fraktion geschasst. Halb zogen sie ihn runter, halb sank er selber hin. Gesundheitlich und finanziell angeschlagen, vernachlässigte er die die Fraktionsarbeit, verlegte überdies seinen Wohnsitz nach Pulsnitz.

Weniger Aufsehen erregte zur Adventszeit 2023 der Austritt von Petra Nikolov aus der CDU-Fraktion. Sie hatte es gewagt, 2020 gegen den damaligen Fraktionsvorsitzenden Jan Donhauser um das Amt des Bildungsbürgermeisters zu kandidieren, fühlte sich danach nicht mehr wohl, kritisierte gar das „Schaulaufen“ im gesamten Stadtrat. Ihr Umzug nach Pesterwitz lieferte dann den Anlass.

Weit über Dresden hinaus wurde hingegen eine Abstimmung am 7. März dieses Jahres bekannt, in deren Folge die Fraktion der Heimatlosen noch heimatloser wurde. Es ging um einen Dresdner Vorstoß zur Einführung einer Bezahlkarte für Leistungen an Asylbewerber, ein Antrag der AfD-Fraktion. In der Sache viel Lärm um wenig, denn mittlerweile haben Bundestag und Bundesrat die Bezahlkarte beschlossen. In der Form dennoch beachtlich, denn wieder einmal bröckelte die vielbeschworene Brandmauer, und neben den Halbrechten stimmte auch die CDU dem AfD-Antrag zu. Zur knappen Mehrheit aber verhalf ihm das „Partei“-Mitglied Max Aschenbach aus der vierköpfigen Dissidenten-Fraktion. Woraufhin sich die Ex-Grünen Johannes Lichdi und Max Schmelich empörten. Pirat Martin Schulte-Wissermann verließ gar die Minifraktion. Was aber keine Todfeindschaft bedeutete, denn er und der Lümmel Aschenbach reden als Sitznachbarn im Ratssaal weiterhin miteinander.

Grüne in der Selbstverkehrsversuchung

Was schließen Wählerinnen und Wähler daraus? Nehm´se die Kandidaten wie sie sind, es gibt keine anderen. Es sei denn, Sie Bürger*:?in hätten selber kandidiert und selbstverständlich alles besser gemacht. 15 Parteien und Wählervereinigungen haben keine Angst vor Straßenterror. Mangels Unterstützungsunterschriften wurden die Dissidenten, der Anhimmelverein für die schöne Sahra und die Paneuropäer von „Volt Deutschland“ nicht in allen der elf Wahlbezirke zugelassen.

Bleibt die Äußere Neustadt grün, das Schönfelder Hochland stockkonservativ, wie stimmen die Plattenviertel Gorbitz und Prohlis ab, die bravourös der Hauptlast der Migrantenintegration in der Hauptstadt tragen?

Den Grünen waren offenbar der modische Ampel-Gegenwind und der trendige Grünen-Hass noch nicht genug. Sie und das grün geführte Bau- und Verkehrsdezernat mussten mit Verkehrsversuchen in den Monaten vor der Wahl noch möglichst viele Bürger Dresdens gegen sich aufbringen. Der folgenschwerste über das Blaue Wunder hatte noch die größte Berechtigung, weil der Schutz der Radfahrer wirklich ein Problem ist. Ein Problem, das man mit dem damaligen Zweibrückenkonzept und seiner Entlastungsfunktion für das Loschwitzer Brückenwunder anstelle der Waldschlösschenbrücke nicht hätte.

Kurzsichtige Planung spielt auch bei der fragwürdigen Fahrbahnmalerei auf der Bautzener eine Rolle. Warum wurde bergab vom Hirsch nicht der Radweg verbreitert, als der ganze Abschnitt wegen des Auseinanderziehens der Straßenbahngleise ohnehin eine Baustelle war? Und warum wird nicht der ausreichend breite und ohnehin kaum befahrene Radweg bergwärts ertüchtigt und an der Mordgrundbrücke vollendet, anstatt von der Fahrbahn zweieinhalb Meter für einen zweiten Radweg abzuzweigen? Straßenbahn und Autos haben jetzt zusammen weniger Platz als die einsamen Radfahrer und behindern sich gegenseitig.

Ähnlich schon lange an der Auffahrt Nossener Brücke oder am Flügelweg. Es würde natürlich Geld kosten, einen vorhandenen Radweg zu glätten und zu verbreitern, ein paar Eimer Farbe sind billiger. Fahrradstraßen werden auf der Comeniusstraße oder der Glashütter ausgeschildert, wo man sich auf dem Rad noch nie von Autos bedrängt fühlte. Ungezählte Brennpunkte aber drohen weiterhin. Nördlich von Albertplatz und Neustädter Bahnhof kann man überhaupt nur noch mit Treckerreifen und ausreichender Panzerung fahren.

Auf der ADFC-Diskussion zur Kommunalwahl in der Dreikönigskirche wurde über das Radweg-Stückwerk in Dresden gespottet. Aber es gibt doch seit 2017 ein Radwegekonzept! Im kommenden Jahr sollten die 447 Einzelmaßnahmen eigentlich umgesetzt sein. Erfüllungsstand 96 meist kosmetische Verbesserungen, also 21,5 Prozent! Da überholt ja sogar noch die neue Neustädter FDP-Hoffnung Hai Bui, wenn er Autoparkplätze für eine Fahrradstraße Dammweg opfern würde.

Famoser Endspurt der Wahlweihnachtsmänner

Aber sonst wird doch (fast) alles gut! Stadtrat und Verwaltung haben im Wahlfrühjahr mit einer frappierenden Wohltätigkeitsoffensive letzte Zweifler an die Zustimmungswahlurnen getrieben. 1,7 Millionen Euro für 54 Sozialwohnungen, die Linke will mit einem veränderten Bedarfsanmeldungsverfahren mehr Knete für Sport, Kultur und Soziales lockermachen, das neue Steyer-Stadion wird für jede Kostensumme gebaut. Die Stadt bekommt die Bundesgartenschau 2033, und die Kämmerei kann sich schon mal mit weiteren Haushaltsperren auf die Ausgabenwelle vorbereiten. Deren Thema ist übrigens die Kultivierung von Trümmerarealen, und man mag sich dabei seine eigenen blühenden Landschaften vorstellen.

Unfassbares geschah zur letzten Stadtratssitzung am 16. Mai. Fast einstimmig bekam das Schütz-Konservatorium 1,3 Millionen mehr, um bisherige Honorarlehrer-Ausbeutungsverhältnisse in feste Stellen umzuwandeln. Das Kunsthaus soll endlich von der Rähnitzgasse in die Robotron-Kantine umziehen! Und was vor der 900-Jahrfeier Dresden 2106 nicht für möglich gehalten wurde: Nach 30 Jahren Planungsstreit darf die Königsbrücker Straße umgebaut werden! Die Fortschreibung des 2020 beschlossenen „Integrierten Energie- und Klimaschutzkonzeptes“ hinkt nur zwei Jahre hinterher. Immerhin soll die Treibhausgasneutralität schon 2035 erreicht werden

Plakatwahlkampf als Humorzone

Das sind doch Gründe, im sächsischen Mutterland der schlechten Laune nicht mit hängenden Mundwinkeln zur Wahl zu gehen! Den Frohsinn kann ein Spaziergang durch die Dresdner Lichtmastenlandschaft mit den um Erleuchtung bemühten Wahlplakaten befördern. Die AfD-Aufforderung „Demokratie bewahren“ ersetzt allein schon die Lacher einer Stunde Comedy. Nicht ganz den Lacherfolg erzielt „Unsere Bürger zuerst!“, weil zum Beispiel der Autor gar nicht zu den „unseren“ gezählt werden möchte. Der AfD-Appell „das Original wählen“ muss aber ernst genommen werden, ahnt die Alternative doch, dass ihr auch aus der Mitte Produktpiraterie droht.

Die Linke geht mit André Schollbach ins Wasser und will die vermummten wie auch die textilfreien Bäder in Gorbitz und Dölzschen retten. Die Dissidenten finden das umweltmobile Paris gut, wobei sie das dort beschlossene Verbot des E-Scooter-Terrors in ihrer Agenda vergessen haben. Das BSW sieht Dresden vor der Schicksalsfrage „Krieg oder Frieden“ und „Abstieg oder Aufbruch, also ganz wie 1933. Die SPD plakatiert neben eigenen Köpfen auch den von Oberbürgermeister Hilbert, dem sie „auf die Finger schauen“ will.

Bei der Drohung „Die CDU ist wieder die CDU“ zuckt man unwillkürlich zusammen. Um sich gleich darauf zu beruhigen, denn als die CDU noch die CDU war, mussten sie die beiden Großkirchen noch nicht an das Matthäusevangelium erinnern und ihrem neuen Parteiprogramm einen „radikalen Bruch mit dem humanitären Erbe“ beim Schutz von Flüchtlingen vorwerfen. Fraktionschefin Anke Wagner lässt denn auch ihren fitnesscentergestählten Muskelarm auf dem Plakat spielen. Da hält die FDP eine Nummer kleiner mit ihrem Bizeps dagegen. Und lässt ihren kulturaffinen Holger Hase die völlig antiliberalistische Altthese entdecken: „Freiheit braucht Verantwortung!“

Für ein seufzendes Déjà-Vu sorgt Jens Lorek von den Freien Sachsen. Der Anwalt war einst linke Hand der PDS-Stadt- und stellvertretenden Bundesvorsitzenden Christine Ostrowski, mutierte dann zum Pegida-Ordner und präsentiert sich nun im Namen der vom Erzgebirge heruntersickernden Rechtsextremisten. Auf dem Plakat guckt er genau so grau grimmig gruselig, wie man sich einen „Freien Sachsen“ vorstellt. Hundert von ihnen protestierten am 7. April gemeinsam mit der AfD und einem Blogger „Schreiberklagtan“ vor der Semperoper gegen die Kulturförderung kritischer Vereine und Bands wie Banda Communale. Die Demo begann mit einer pathetisch-einfältigen Sachsenhymne auf die Melodie der alten und neuen Stalin-Sowjet-Putin-Hymne. Aufrechte Dresdner, lernt das vergessene Russisch wieder und schneidert weiß-blau-rote Fahnen! Schon in der nächsten Legislaturperiode könnten die Russen hier sein.

Aber wen interessiert das schon? Dann würde der ehemalige Volkspolizeiverein Dynamo Dresden wie schon 1950 wenigstens zwangsweise wieder in die erste Bundesoberliga aufsteigen.
Michael Bartsch