Der bulgarische Blick

Ein SAX-Gespräch mit Ray van Zeschau über den Film »Mein Onkel Lubo«

Ljuben Stoev (links) und ray van Zeschau. Foto: Grit Dora von Zeschau

Ray van Zeschau in Dresden zu entkommen, ist auf Dauer ein Ding der Unmöglichkeit. Sind seine Bands Ray & the Rockets und die seit einiger Zeit wiederbelebten Freunde der Italienischen Oper durchaus bekannt, so begegnet man dem medialen Tausendsassa auch mal, wenn man es nicht bemerkt. Das kann auf Social-Media-Plattformen passieren, wo er sich vor allem mit der Fotografie auseinandersetzt, nicht zuletzt mit der Architektur seiner Heimatstadt Dresden. Aber was heißt schon Heimatstadt? Schließlich wurde Ray in der bulgarischen Metropole Sofia geboren. Das war 1964, entstanden aus einem »bulgarisch-deutschen Unfall«, wie er es selbst ausdrückt. Und dieser »Unfall« barg eine verwandtschaftliche Nebenlinie in sich, der sich Ray van Zeschau mit dem Dokumentarfilm »Mein Onkel Lubo« widmet. Denn der Bruder seines bulgarischen Vaters war der Maler und Grafiker Ljuben Stoev. 1963 Meisterschüler bei Lea Grundig an der HfBK Dresden, lernte er sogar noch Otto Dix persönlich kennen und führte nach seiner diplomierten Rückkehr nach Sofia ein beeindruckendes Leben zwischen Kunst und Seefahrt. 2016 starb Stoev im Alter von 77 Jahren und hinterließ unter anderem eine Wohnung, deren Entdeckung für Ray van Zeschau zu einem besonderen Abenteuer wurde – emotional und künstlerisch. Am 6. Januar kann man an dieser besonderen Reise teilhaben, wenn »Mein Onkel Lubo« in der Schauburg Premiere hat.

SAX: Wann stand für dich fest, diesen Film über deinen Onkel zu drehen?
Ray van Zeschau: Eigentlich gar nicht, da das Doku-Genre ja nicht wirklich mein Metier ist. Ursprünglich wollten zwei bulgarische Regisseurinnen, also ohne Unterstrich, eine Doku über meinen Onkel drehen. Nachdem zwei Jahre lang aber nichts passierte, hat dann mein Vater, der selbst Filmemacher ist, das Heft in die Hand genommen und mit dem Regisseur Nikola Boshnakov den Plan gefasst, eine eigene Doku zu entwickeln. Kolyo, also Nikola, kam dann auf die Idee, die Story aus meiner Perspektive zu erzählen, und plötzlich war ich der lebende Protagonist.

SAX: Man sieht am Anfang des Films, wie du mit der Handy-Taschenlampe eine erste Erkundung der Wohnung unternimmst. Das hat etwas Crime-mäßiges bis zur Entdeckung einer ungeöffneten Bierflasche im Kühlschrank. Was hat dieser Moment ausgelöst?
Ray van Zeschau: Dass man sich plötzlich irgendwie selbst erkennt und sich sagt: Genau so muss das sein! Auch wenn gar nichts mehr geht oder man bereits die Reise angetreten hat, ein Bier im Kühlschrank ist immer wichtig. Man kann ja nie wissen und muss auch immer Obicht geben!

SAX: Im Film wird der Satz gesagt: Viel Freude im Haus, sehr wenig im Kühlschrank. Ein aus der Not geborenes Lebensmotto? Spaß am Leben, auch wenn alles im Argen liegt?
Ray van Zeschau: Das war sein Freund Johnny Penkov, aber im Prinzip ja, Spaß am Leben, auch wenn alles im Argen liegt, ist schon sehr gut beschrieben und vor allem hält es die Seele fit. Das Motto beziehungsweise der Lieblingsspruch meines Onkels war – vor allem nach einer handfesten Party –, sich mit den Worten zu verabschieden »und wenn etwas vorgefallen sein sollte, bitten wir dies zu entschuldigen«.

SAX: Wie und wann hast du Ljuben Stoev kennengelernt? Wie war und ist die Beziehung zum bulgarischen Teil deiner Familie?
Ray van Zeschau: Ich war erstmals 1974 bewusst in Bulgarien, da traf ich natürlich auch meinen Onkel. Wie so oft bei Geschwistern, war mein Onkel ähnlich, aber anders als mein Vater. Lubo war strukturierter, sprach im Gegensatz zu meinem Vater perfekt Deutsch, obwohl beide fast die selbe Zeit in der DDR verbracht hatten. Er konnte sehr gut Walter Ulbricht nachmachen und war irgendwie kultivierter. Mein Vater ist eher der etwas rumplige, aber charmante Hans Dampf in den berühmten – positiven – Machismo-Gassen des Lebens. Mein Vater meinte mal, dass er sich durch mich immer oft an seinen Bruder erinnert fühlt. Ansonsten war ich von meinem zehnten Lebensjahr an fast jedes Jahr im Sommer in Bulgarien. 1988/89 wollte ich gar nach Sofia ziehen und schauen, was geht und stellte einen entsprechenden Antrag, da man ja damals nur ein Visum für 30 Tage im Jahr bekam. Die DDR-Beamten behandelten mich aber, als wöllte ich in den Westen ausreisen. Vorladung mit zwei grinsenden Typen am Schreibtisch, die mich fragten, was ich da wolle? Meine Antwort: Hallo? Das ist mein Vaterland, unser Bruderland! Na ja, dann kam das Engagement mit FDIO und mir als Euphorion am Schauspielhaus für »Faust« und mein Lebensweg sollte anders verlaufen. Ljuben war auch immer mal wieder in Dresden. 1986 kam dann mein Bruder Tony hinzu, mit dem ich – oft auch mit meinen Kindern zusammen – mittlerweile mehr Zeit verbringe, als mit meinem Vater, wenn ich in Bulgarien an Bord bin.

SAX: In seiner Kunst war Ljuben Stoev ein Grenzgänger, ein Seefahrer, dessen Werke Wellen auslösen können. Kannst du etwas über seinen inneren Antrieb sagen?
Ray van Zeschau: Seine Reisen zur See waren für ihn die einzige mach- und finanzierbare Möglichkeit, als Künstler die Welt zu bereisen. So hatte er einen Deal mit der Bulgarischen Handelsflotte, die ihn an alle möglichen Ecken der Welt kostenfrei mitnahm. Wer hätte solch eine Möglichkeit im Sozialismus nicht genutzt? Offiziell war er dann als Schiffskoch angestellt, was jedoch nur auf dem Papier stand. Spätestens aber nach der verpatzten bulgarischen Wende schlug die Situation so krass um, dass es für ihn offensichtlich unausweichlich war, künstlerisch zu reagieren und der bulgarischen Gesellschaft einen Spiegel vorzuhalten. Er konnte das nicht unkommentiert so stehen lassen.

SAX: Postum konnte dein Onkel noch einmal in Dresden ausstellen, einige seiner Werke waren mitten in der Corona-Zeit vom 16. Oktober 2020 bis zum 4. Juli 2021 im Stadtmuseum zu sehen, die Ausstellung trug den Titel » Ljuben Stoev – Und die im Dunkeln sieht man nicht«. Wieso dieses Brecht-Zitat?
Ray van Zeschau: Seine Auseinandersetzung im letzten Drittel seines Lebens, mit den gesellschaftlichen Themen und unfassbaren Umständen Bulgariens nach der Wende, verglich er selbst mit der Dreigroschenoper und lenkte seitdem seinen künstlerischen Blick auf die, die man im Dunkeln nicht sah. Nebenbei spielte er auch hervorragend Akkordeon und Mackie Messer war eine seiner Lieblingsnummern – und das zu Recht.

SAX: War es einfach, das Museum von dieser Ausstellung zu überzeugen? Wie wurde sie kuratiert?
Ray van Zeschau: Eine Geschichte, die ich mit einem lachenden und einem weinenden Auge betrachte. Noch zu Lebzeiten war es der größte Wunsch meines Onkels, noch einmal in Dresden ausstellen zu können. Nun kannte ich ja die üblichen Verdächtigen, die aber entweder mit den Sachen nichts anfangen konnten, oder mir sagten, dass sie davon nichts verkaufen könnten. Da wir das aber gern als Abschluss in dem Film haben wollten, fiel mir plötzlich Johannes ­Schmidt, Kustos der Städtischen Galerie ein, den ich ja schon seit Anfang der 90er kannte. So erzählte ich ihm von dem Projekt und gab ihm zwei Kataloge meines Onkels, von denen er sofort begeistert war und auch Direktor Porstmann überzeugen konnte. Natürlich hätte ich den Wunsch meines Onkels gern zu Lebzeiten erfüllt, aber die Städtische Galerie erschien mir damals einfach zu hoch gegriffen, wo wir wieder mal kurz heruntergebrochen feststellen können: Frachn kostet nüscht! Von Anfang an war für die Ausstellung aber klar, dass das künstlerische Hauptaugenmerk auf den sozialen Themen der Bilder und Installationen liegen soll. Einen genauen Plan für die Ausstellung hatten wir erst mal nicht, da ich aus eigener Erfahrung bei Umzügen festgestellt hatte, dass vorherige Pläne, wo was hinkommt, nicht funktionieren. So was muss man vor Ort entscheiden. Und so haben wir in Sofia so viel wie möglich mitgenommen, was eben in so einen 13 Meter langen Iveco reinpasst, und sind damit nach Dresden gefahren. In der Galerie fragten die Mitarbeiter dann ganz erstaunt, ob ich das alles in dem Neuen Projektraum zeigen wolle? Ja klar! Die Museumstechniker waren auf der Stelle begeistert. Endlich mal alles vollhängen. Ich habe dann auch persönliche Dinge aus seinem Leben mit in die Ausstellung einfließen lassen, um einen Hauch des Charmes seiner Wohnung erlebbar zu machen. Vielleicht könnte man es auch als emotionale Brücke bezeichnen.

SAX: Zur Finissage der Ausstellung wurde eine Rohfassung des Films »Mein Onkel Lubo« gezeigt. Wie waren damals die ersten Reaktionen?
Ray van Zeschau: Die waren schon wohlwollend, aber der Film war zu dem Zeitpunkt noch zu chaotisch, sodass man, vor allem in den ersten 15 Minuten, eher den Eindruck hatte, dass es ein Bandporträt ist, bevor man irgendwie mitbekam, dass es um meinen Onkel geht.

SAX: Regie führte mit dir gemeinsam der bulgarische Dokumentarist Nikola Boshnakov. Wie kam diese Zusammenarbeit zustande?
Ray van Zeschau: Na etwas anders, Kolyo also Nikola ist der Regisseur und mein Vater fungierte irgendwie als so etwas wie eine graue Eminenz. Irgendwann musste ich aber in diesen Film quasi als Co-Regisseur, deutscher Produzent und schluss­endlich als Ray eingreifen, weil wir von deutscher Seite sagten: So könnt ihr den Film in Deutschland nicht bringen, das versteht hier so keiner. Und so kam es, dass ich auf der Basis des bulgarischen Schnittes den Film mit Rainer A. Schmidt, ehemals Posaune bei FDIO und heute freischaffender Cutter/Editor, auf eine knappe Stunde herunterdampfte und ihm eine, sagen wir, flotte neue deutsche Dramaturgie verpasste. Klingt ja fast wie ein neues Kinoformat.

SAX: Hinter der Kamera stand Antony Stoev, sicher einer aus der Familie?
Ray van Zeschau: Tony ist mein jüngerer größerer Bruder väterlicherseits.

SAX: Im Film wird Musik deiner Bands verwendet, aber auch der Dresdner Komponist Frieder Zimmermann hat mitgewirkt. Was war seine Aufgabe?
Ray van Zeschau: Frieder ist da eigentlich mehr zufällig reingerutscht. Ursprünglich sollte Tex Morton mit mir die Vernissage musikalisch eröffnen, dann bekam er aber plötzlich einen wichtigen Gig mit einer seiner 96 Bands rein. Da ich keinen anderen Gitarristen in meinem Umfeld kannte, dem ich vertrauen konnte, vier Nummern ungeprobt zu spielen, fiel mir Frieder ein und zack – es funktionierte. Da er einmal an Bord war, hatte ich ihn auch gleich noch mit dem Recording meiner Sprecher­stimme betraut, was ich ursprünglich selbst zu Hause machen wollte, aber schnell merkte, dass das Mist wird. Als bulgarischer Dresdner, der hier sprachlich gymnastiziert wurde, hatte ich natürlich so gut wie möglich versucht, Hochdeutsch zu sprechen, was aber bei mir viel zu überkandidelt klingt und nicht mehr natürlich. So kann man sicher einen fiktiven oder schrägen Charakter bedienen, aber ich musste ja immer noch ich und vor allem authentisch sein. Da ich Frieder sehr sehr schätze und vertraue, bin ich zu ihm ins Studio und habe die Texte aufgenommen. Es war genau die richtige Entscheidung! Er hat mich hervorragend geleitet und mich auf Dinge hingewiesen, die man selbst so gar nicht mitbekommt. Am Ende hat er dann noch das ganze Sounddesign des Filmes erarbeitet.

SAX: Der Film ist mit einer Stunde Länge ein anderes Kaliber als ein Kurzfilm von ein paar Minuten. Was war für dich die größte Herausforderung dabei?
Ray van Zeschau: (lacht auf) Die eigentliche Herausforderung war, den Film auf eine Stunde zu kürzen, da das bulgarische Team den Film gar noch 30 Minuten länger halten wollte. Da war mir aber zu viel Trallala drin, das dem Film nicht guttat und 1:30 Stunden sind eh viel zu lang für eine Doku.

SAX: Was hast du über Bulgarien gelernt, was dir bis dahin unbekannt war?
Ray van Zeschau: Das, was ich irgendwie befürchtet habe. Ich kenne ja Bulgarien eigentlich nur als embedded Angehöriger, wenn ich da zwei, drei Mal im Jahr bin. Da habe ich schon einen tieferen Einblick als ein Tourist. Aber wenn man plötzlich da arbeitet, sieht die Welt ganz anders aus. Wobei man sagen muss, dass Filmemachen immer ein anstrengender Prozess ist, aber das war für mich The Clash of the Cultures. Ich dachte immer, ich bin schon eine Schlampe, aber das war noch mal eine Nummer heftiger. Diese Mentalität, die ich glaubte zu kennen, hat mir einmal mehr gezeigt, warum Bulgarien in Europa da steht, wo es steht, und die EU ist da aber nicht ganz unschuldig daran. Wahrscheinlich lässt man mich jetzt nicht mehr ins Land.

SAX: Der Vater von Ljuben Stoev, Stefan Stoev, also dein Großonkel, war nicht nur Jäger, sondern auch Partisan. Man könnte meinen, es wäre der Stoff für einen weiteren Film.
Ray van Zeschau: Das geht ja bei meiner bulgarischen Großmutter Elena noch weiter, die in den 20er-Jahren,  Anfang der 30er in Berlin Zahnmedizin studierte und so nebenbei kleinere Kurieraufgaben für Georgie Dimitrov übernahm. Auch traf sie einmal Albert Einstein, um von ihm eine Petition gegen das bulgarische Todesurteil gegen einen bulgarischen Wissenschaftler unterzeichnen zu lassen. Der Mann wurde begnadigt. Die Schwester meiner Oma, Maria Dimova wieder, studierte damals bei Mary Wigman in Dresden. Aber eigentlich hätte man schon darüber einen Film drehen können, wie ein Vater versucht, mit seinem Sohn einen Film über seinen verstorbenen Bruder und dessen Onkel zu drehen. Da spielten sich in der Tat shakespearehafte Dramen ab.

SAX: Dein Stiefvater Wolfgang Hänsch war der Architekt des Kulturpalastes, des Hauses der Presse, des Wiederaufbaus der Semperoper – etwa 40 Bauten seiner Handschrift entstanden zwischen 1959 und 2007. Deiner eigenen Beschäftigung mit Architektur man kann bislang vor allem auf Fotografien folgen. Gibt es auch hier vielleicht eine filmische Idee für die Zukunft?
Ray van Zeschau: Wie ich im Interview bereits erwähnte, ist der Dokfilm eigentlich nicht so mein Thema, da das Medium Film im professionellen Sinne einen ungeheuren und aufreibenden Aufwand an Zeit, Organisation und Bürokratie benötigt, dem ich mich eigentlich nicht gewachsen fühle oder nicht sein will. Der Lubo-Film hat mich schon echt an meine nervlichen Grenzen gebracht, aber wie mein Freund Tex Morton schon richtig sagt: »Das muss man schön möchten.« Und so könnte ich mir zum Beispiel vorstellen, meine FB-Seite »Verschwundenes Dresden« in eine Form der Dokumentation zu bringen. Interviews mit dem Denkmalamt, Architekten, Entscheidern und Investoren wären auf alle Fälle ein spannendes Thema, das einen sicher hie und da sprachlos zurücklassen würde. Vielleicht möchte ich ja mal und es findet sich eine Finanzierung.
Interview: Uwe Stuhrberg

Mein Onkel Lubo 21. Januar um 18.30 Uhr und am 24. Januar um 19 Uhr in der Schauburg
www.facebook.com/MeinOnkelLubo