Der EU-Geist als Nachtgespenst

Das Europäische Parlament castet sich neu – eine Spurensuche in Straßburg, Brüssel und Dresden

An Europa in der Nacht gedacht, heißt sicher um den Schlaf gebracht. Frei nach Heinrich Heine könnte man just glatt die Kommunalwahl vergessen, denn plötzlich ploppt Europa überall auf: Seit März wird man mit Veranstaltungen über die EU bombardiert, der europäische Geist ist erwacht – und wirklich ist diese Wahl wohl analytisch gesehen die spannendste – wenn auch am meisten in anderen Ländern.

Am Gründonnerstag war die letzte Sitzung der achten Legislatur, am 31. Oktober um 24 Uhr will Jean-Claude Juncker, als Kommissionschef eine Art Ministerpräsident, gehen. Vier Wahltage warten dazu ab 23. Mai, jedes Land hat ein eigenes System, unterschiedliche Sperrklauseln und Mindestalter für Kandidaten, harrende Brexit-Gewinner wie Frankreich oder Spanien (je plus fünf, Niederlande und Italien je drei und Irland (+2 Sitze), die sich gern die einige der 73 britischen Sitze für je 8400 Euro brutto einverleiben mögen, weil das Parlament nur 46 derer sparen und mit 705 Abgeordneten in die neunte Periode starten wollte. 

Dazu gibt es neuartige Netzpräsenzen mit prägnanten Namen in leichter Sprache und garantiert ohne Filterfunktion wie diesmalwähleich.eu oder europamachen.eu – dazu Bündnisse und Aktionen. Hinter der explosiven Entdeckung des Bürgers, fast immer von der EU, also von Steuergeldern, bezahlt, lungert ein Verdacht: Die Angst geht um in Europa: jene vorm falschen Kreuz; pro oder contra erscheint plötzlich als Gretchenfrage, so als ob ein Exit (deutsch: Ausgang) in Sicht wäre. Die Krone der Dreistigkeit im Wahlkampf: Wer nicht wähle, wähle rechts, weil nur die Mitte zum Nichtwählen tendiere, denn die Extremen wählen sowieso – in Sachsen übrigens seit der Bundestagswahl 2017 längst widerlegt.  

Dabei ist die Europawahl hier urst einfach: Man hat eine Stimme für eine Liste, ganz Deutschland ist ein Wahlkreis, jede Partei (außer CDU/CSU) hat eine große Bundesliste, 96 Plätze sind zu vergeben, es gibt (dank zum Glück kläglich gescheitertem verfassungswidrigem Bundestagsversuch) diesmal noch keine Sperrklausel, so dass eine Partei wie die von Martin Sonneborn, die ausgesprochen (soviel Sorgfalt muss sein) „Die Partei für Arbeit, Rechtsstaat, Tierschutz, Elitenförderung und basisdemokratische Initiative“ heißt, nur 0,6 Prozent der Stimmen brauchte, um ihn jüngst zum Mitglied im Ausschuss für Kultur und Bildung und der Delegation für die Beziehungen zur Koreanischen Halbinsel und zum Lieblingsgegner von Brüssels schwarzem Ur-Dino Elmar Brok (Jahrgang 1946) zu machen, der nun seit Ostern, wo das Parlament zum letzten Mal tagte, und den großen Verlegern noch einmal einen geldwerten Gefallen tat, eine neue Herausforderung sucht. 

Europas Herz als Doppelburg mit Sonderzug  

Ein Sachsenquartett sitzt derzeit in Brüssel, zuvor waren es schon zwei Mal sechs Abgeordnete, die Wahlbeteiligung lag einst (1994) bei 70 Prozent, zwei Dekaden darauf auf dem Niveau der Landtagswahl (49,2 %). Was in Dresden vor der Landtagswahl gilt, scheint auch für Brüssel zu gelten: Man hat zwar keine Ideen im Köcher, aber viel Geld im Koffer. So erklärt sich auch der architektonische Wahnsinn, vor dem man in Brüssel, wo pro Jahr sechs Plenarsitzungen sowie die Fraktions- und Ausschusssitzungen abzuhalten sind, wie auch in Straßburg erschaudert. 

In Brüssel, im Kern eine vierstöckige Altstadt, niedlicher als Chemnitz, aber dank Funktion mit steter Polizeisirenenbeschallung samt Blaulicht illuminiert (laut Partei-Sonneborn wie Bonn nur mit Nachleben samt deutscher Blase), musste ein ausgewachsener Park weichen, um das Raumschiff landen zu lassen – ein kurzer Stadtrundgang, samt der riesigen, anonymisierten Lobbyklötze gleich gegenüber, reicht, um die neuverbaute Dresdner City lieben zu lernen.

Noch befremdlicher: Der Ausbau als weitestgehend kostenloser Touristenmagnet: Vorm „Parlamentarium“ als Erklärmultimediaarena warten etliche verschiedenfarbige Stuhlrondelle, es erinnert an den politfreien Tagen eher an Eurodisney für Abiturienten, wobei nur die steten Interviews vor der symbolischen Kulisse, gern zu buchen beim hauseigenen Sendeapparat, und ein paar Mikroproteste vor großer Kulisse an die politische Dimension erinnern. Hier, im EU-Lobbyviertel, wo mehr echtes Geld unsichtbar diffundiert als zwischen den Frankfurter Banktürmen, verpufft jede Demonstration – nur Anschläge scheinen zu sensibilisieren, wie jüngst zu beobachten. Auch hier stellen sich die beiden großen Systemfragen, an denen man Eliten wie Publizisten eigentlich jederzeit und immer messen müsste: Wem nützt es? Und wer bezahlt es?    

Wenigstens wartet draußen, am Place du Luxembourg vor der neuen „Station Europe“, als Merch-Foyer im ehemaligen Gebäude des Bahnhofs Brüssel-Luxemburg eingerichtet, ein Hauch von entwickeltem Stadtquartier und das Denkmal des Industriellen John Cockerill, hochoben in Gelbweste gekleidet und mit Plakaten veredelt.

In Straßburg ist die riesige Europaburg etwas außerhalb, weiter und grüner, eine Wasserstraße beruhigt – nur ist das Riesenrondell, welches sich seitwärts zum Europaratsgebäude gigantisch wie ein Fußballstadion ans Ufer schiebt, ohne Parlamentsbesatzung beheizt leerstehend. Es sollen dabei durch die 1997 in Amsterdam fixierte EP-Doublette, wobei Straßburg der eigentliche Sitz, aber Brüssel dank Lage und europäischer Logistik viel beliebter ist, fast 70 000 Arbeitstage fürs stete Hin- und Her-Reisen von 5000 Personen samt acht Aktenlastern flöten gehen. Die „Neue Züricher Zeitung“ bemaß die Kosten für den Transfer vor fünfeinhalb Jahren mal mit zehn Prozent des Gesamtbudgets, also rund geschätzten 200 Millionen Euro plus 19.000 Tonnen Kohlendioxid per anno – für 42 Tage Sitzungstage. Der europäische Wanderzirkus, verbal illustriert mit einem Sonderzug am Montagmorgen, sei selbst Parlamentariern zu viel, schrieb Niklaus Nuspliger, und verwies zudem auf 2,1 als EP-Faktor, den elsässische Hoteliers an jenen Tagen auf die normale Preise aufschlagen – für eine monatliche Parlamentssimulation ohne eigene Gesetzeskraft für (laut EU-Rechnungshof) für 110 Millionen reine Betriebskosten. Wer dazu mehr erfährt, dem sei die wunderbare Deutschlandfunk-Reportage „Europa, Straßburg, Paris – Phänomen Entfremdung“ vom 25. Mai zum Nachhören empfohlen. Wobei schon die ganze Serie der „Gesichter Europas“ ab dem 4. Mai – zuvor mit den Stationen Portugal, Griechenland und Rumänien en passant zeigt, wem die EU schadet: den schwachen Volkswirtschaften mit geringen Lohn- und Lebensniveaus: Einerseits per enormen Arbeitskraftentzug, gern Braintrain genannt, obwohl sich viele nur noch Flixbus oder Ryanair leisten können, plus Marktfreiheit für billigere Produkte und Ketten – vor allem deutscher Firmen. 

Leichte Legitimationsprobleme 

Man kann viel zur Europäischen Union, deren drei Standorte sowie der Arbeitsweise lesen und sich vertiefen, eine demokratisch legitimierte Liebe zur fernen Volksvertretung fällt auch ohne Vorortbesuche schwer: Der Apparat, der gönnerhaft damit wirbt, nur einen Kaffee pro Jahr und Kehle (also 3,50) zu kosten, bleibt undurchsichtig und wirkt künstlich aufgepfropft, wenn auch der Vergleich zum Bundestag (9,20) en passant zeigt, dass wir uns auch noch das teuerste Parlament (Franzosen je 8 Euro = 1 Wein, US-Amerikaner je 6 Euro = 4 Hamburger). Das sind allerdings die Haushaltszahlen von 2015 – und nur fürs reine Parlament (samt Parlamentarium und die Berliner Europaerlebniswelt), Sonneborn spricht von 135 Milliarden Umsatz, wobei die EU bislang keinerlei eigene Einnahmen hat, also vollkommen von den Steuerzahlern der Mitgliedsländer (und nicht von den Abgeordneten oder von ihnen beschlossenen Haushalten) bezahlt wird. Für Sachsen wären das bei rund vier Millionen Einwohnern nur 14 Millionen – der Nutzen steht natürlich auf einer netten Netzseite: www.das-tut-die-eu-fur-mich.eu (ohne ü!) - für meine Region, mein Leben oder gar im Fokus.

Der Vertrauensbruch – vor allem zur Macht der Kommission als Exekutive – trägt für viele einen Namen: TTIP. Und ward, so als pure Geschichtsironie, nur von Donald Trump gestoppt – wird aber über die kleine kanadische Schwester namens CETA garantiert in der Wirkung kompensiert. Wieder die römisch-philosophische Frage in Politlatein, spätestens seit Cicero und somit ganz knapp 2100 Jahre alt: Cui bono? Denn wem nützt unkontrollierter Freihandel? Und, gern horizontal ausgeblendet, dazu global wie rund ergänzend: Was treibt eigentlich BRICS derweil?  

Zurück zum Thema, also der (untereinander) friedensstiftenden Wirtschaftsraumunion: Glaubt man unserer schwarzen Union, dann ist die europäische Union, 1951 als EG für Kohle und Stahl mit sechs Staaten gestartet, ihr Werk und habe gemeinsame Grundwerte (auch jenseits des Euros). Ein echtes Parlament ward europaweit gemeinsam erstmals 1979 gewählt, doch: Ach, Du Schreck: Die vereinigten Sozis, sich heute als Fraktion kurz S§D, also Progressive Allianz der Sozialdemokraten nennend, gewannen mit ganz leichter Mehrheit und hatten bislang immer 25 bis 35 Prozent. Außerdem war die Lage stets so vertrackt, dass nie auf dem gern verwendeten, aber seit jeher (also spätestens seit Jandls „Lichtung“) unterkomplexen Links-Rechts-Schema ordentliche Koalitionen möglich gewesen wären.

Damals bildeten 410 Abgeordnete aus neun Ländern aus 57 nationalen Parteien sieben Fraktionen. Seit 1999, mit drei neuen Ländern (Austria, Finnland und Schweden) und einem plötzlichen Zehn-Prozent-Sprung führt die Union als PPE genannte Fraktion der Europäischen Volkspartei die Tabelle an, hatte aber auch nie mehr als jene 37 Prozent. 

Anno 2014 stand es nach dem urst lahmenden EU-Match der Kapitäne Schulz vs. Juncker 25:29 (in %), was umgerechnet in Doppelsitz- und Büroplätze in Brüssel plus Straßburg 189 zu 219 bedeutet, wovon nach der (immer noch vagen, weil komplizierten Prognose) ab 2. Juli, erster Sitzungstag des neunten EP, auf 51 bzw. 36 Sitze verzichten, wobei dort der nun ausfallende Britenrabatt, also die Reduktion von 751 auf 705 Mandate, noch mit einberechnet war. Ein Vergleich mit dem Bundeswahltrend hat nur ganz wenig Aussagekraft (vgl. www.dawum.de).

Sachsen stimmen mit 3:1 gegen die Netzzensur

Die EU-Malaise ist auch eine der steten großen Koalition, aber auch der undurchsichtbaren Frontlinien in den beiden gleichwirkenden riesigen Sälen (wo Vater und Tochter Le Pen gleich neben Martin Sonneborn saßen), die viele Abstimmungen zwar recht spannend machen, aber die Wähler rasch verprellen oder verunsichern. Man muss, um zu wissen, wer wie steht, immer auch auf die Abstimmungsverhalten einzelner Abgeordneten schauen, was beim Protokollgenuss aber recht kompliziert ist. 

So entschied eigentlich Sachsens recht altes Europaquartett echt jugendfrei: mit 3:1 gegen die Netzzensur, für die die Urheber, die angeblich jetzt von den Datenkraken ausgezahlt werden, als Argumentationsmasse herhalten mussten.

So war es für die AfD im Dresdner Landtag kürzlich ein leichtes, süffisant gegen Uploadfilter und für Meinungsfreiheit zu plädieren: Nur Peter Jahr (CDU-Nummer 1 in Sachsen) war dafür, dagegen waren Hermann Winkler (CDU-2.), Constanze Krehl (SPD) und Cornelia Ernst (Linke) – wie alle deutschen Grünen, Linken und Sozis. Dennoch unterschrieb SPD-Eurospitzenfrau Katarina Barley, im Kabinett „Merkel IV“ recht unglückliche Ministerin für Verbraucherschutz (und auch Justiz), das Ding im Rat – mit Erklärungsklausel für Deutschland. Man hat ja nun zwei Jahre Bedenkzeit zum Aussitzen der Jugend- und Nerdproteste. 

Bisheriger Höhepunkt im Parlamentsbabylon, wo jetzt immer drei Mal 24 Dolmetscher bereitsitzen: der Beitritt Osteuropas samt Zypern vor dem 6. Parlament (2004-2009) – die im Gegensatz zu Nettozahlern wohl als Bruttoempfänger bezeichnet werden müssten, aber dies als netter Waren- und preiswerter Arbeitskräftemarkt anderweitig bezahlen.

Das brachte dem Vereinigten Königreich den Verlust der roten Laterne in der Wahlbeteiligung. Und einen sichtlichen Anstieg der Frauenquote (derzeit in acht Ländern, meist über die Kandidatenlisten, sogar festgelegt: von größer als Null in Rumänien bis 50 Prozent in Frankreich und Belgien), die weiter stetig steigend derzeit bei 36,2 Prozent (Sachsen: 50 %, BRD: 35,4 %) lag. Da waren es aber 732 Abgeordnete aus 25 Ländern und bildeten aus 168 nationalen Parteien wieder sieben Fraktionen, wobei es aber 109 nationale Delegationen, alle verschränkt mit den Fraktionen im Heimatparlament, zu beachten gilt. 

Im zurückliegenden achten Hohen Hause (von Karfreitag bis zum 1. Juli ruht Europa parlamentarisch wahlkämpfend an der Wähler- resp. Heimatfront) waren es übrigens bei 28 Staaten schon 212 Parteien mit 143 Delegationen in acht Fraktionen – plus 20 Fraktionslose. Dennoch ruft immer noch eine Fahne mit zwölf Sternchen zum Europatag – bald sollten es nur noch elf Freunde im Trickfilmwerbeklipp zur Wahlanimation sein, weil der zwölfte Strichmann mit Sternenkopf fehlen dürfte.   

Euroskeptizismus als Generationenproblem

Vielleicht ist dieser Euro-Skeptizismus auch nur ein Altersproblem, was sich biologisch auswächst? Einer dieser bislang unerkannten Organisationen, die beim heimatlichen Vorosterspaziergang auf der Suche nach dem vermissten EU-Geist plötzlich in den Blick geraten, ist die Europa Union Deutschland (EUD) und deren sächischer Landesverband. Nun hat man als progressiver bis dynamischer Dresdner sowohl in sportlicher als auch politischer Hinsicht tendenziell Identifikationsprobleme mit Unionern aller Art und Farbe.

Doch Landesvize Maria-Teresa Rölke, Räckelwitzerin des Jahrgangs 1990, ist gleichzeitig die Chefin der Jugend – und die nennen sich als eigener Jugendverband Junge Europäische Föderalisten (JEF), haben in Sachsen derzeit 95 Mitglieder, darunter 41 Frauen – und sind damit fast so zahlreich wie die Teilnehmer der deutsche demokratische Delegation (96), die just vor Ostern letztmalig als EU-Parlamentarier der achten Edition nach Brüssel, Luxemburg oder Straßburg düsen. 

Denn das Besondere in Sachsen, wo diese Art neuer EU-Geist 2015 erwachte: Die Jungen sind per Doppelmitgliedschaft gleichzeitig Teil der Alten – gemeinsam haben die EUD und die JEF Sachsen derzeit 126 Mitglieder, mit dem 35. Lebensjahr erlischt das Doppelvereinsleben, der Föderalist wird dann zum reinen EUDler. Auf eine erste Anfrage nach dem Unionsgeist antwortet Rölke rasch wie routiniert: „Die Parteibindung erfassen wir nicht. Wir verstehen uns ausdrücklich als überparteilicher Verein und reflektieren dementsprechend auch das ganze pro-europäische Parteienspektrum. Wir sind uns einig, dass wir antieuropäische und nationalistische Attitüden entschieden ablehnen“, erklärt sie alternativlos. Später erklärt sie, dass natürlich auch Parteinachwuchs dabei ist, die überzeugten Proeuropäer in der Mehrheit sind.  

Eine zweite Spur, die Ende März plötzlich im Projekttheaterspielplan auftaucht, heißt Europe Direct Informationszentrum, kurz EDIC Dresden, und haust seit Herbst 2015 Jahren inmitten der schönen neuen Wohnungswürfelcity im schönen alten Umweltzentrumgebäude auf der Schützengasse. Dort arbeitet seit einem halben Jahr Nora Sandner, Radebeulerin des Jahrgangs 1989, als Projektkoordinatorin. Es ist dank des Umweltzentrums als Trägerverein eine von drei Anlaufstellen für europäische Themen in Sachsen. Und wird als eines von rund 500 Informationszentren von der Europäischen Kommission getragen und ist über die Bibliothek des Hauses in der Woche täglich erreichbar. 

Die Hauptschwerpunkte der Arbeit sind mit den Themenkomplexen „Flucht, Asyl und Migration“ sowie „Nachhaltigkeit, Umwelt und Naturschutz“ beschrieben, doch im Projekttheater wartete ein Podium mit dem Titel “Zwischen Marktgläubigkeit und Politik: Die EU vor der Richtungsentscheidung” mit Professor Björn Hacker, EU-Kenner von der HTW Berlin und den beiden sächsischen Europawahl-Kandidaten Matthias Ecke (SPD, Listenplatz 56) und Toralf Einsle (FDP, Platz 17), rund 30 Leute waren im Raum, darunter mehr alte Männer als junge Frauen, die Diskussion rieb sich letztlich am Klimawandel als globalen Phänomen und endete friedlich im Patt.    

Sandner unterschreibt ihre Mails “mit europäischen Grüßen” und hat ebenso wie Rölke, mit der sie gut zusammenarbeitet, ursächsische Wurzeln samt Hochschulbildung, aber eine europäische Biografie. Rölke ging nach dem Abitur nach Leipzig, um als Sorbin Sorabistik zu studieren, Dann aber wollte sie mehr Weite und wählte im Master European Studies, eine Mischform aus Jura, Sprachen, Politik- und Religionswissenschaft. Bereits im Bachelor war sie in Prag und Wroclaw, im Master dann in Kazan und Moskau zugange.

Nun arbeitet sie in ihrem Schwerpunkt Europa für die SPD-Fraktion im Landtag und ist ebenso zufrieden wie Sandner, die auch eine längere Leipziger Episode in der Vita hat. Sie ging nach dem Abi ein Jahr nach London, studierte dann an der TU Dresden Anglistik, Germanistik und Kulturwissenschaft, danach ging sie per Erasmus nach Brüssel, um dann nach Leipzig zu ziehen und in Halle Angewandte Linguistik, Kommunikationswissenschaft und Ethnologie zu studieren.

Nun planen sie gemeinsam – einen Tag nach dem Europatag am 9. Mai, der mit einer großen Podiumsdiskussion im Societaetstheater (ab 19 Uhr) endet, bei der neben Einsle und Ecke auch die vermutlich wieder gewählten Hermann Winkler (CDU) und Cornelia Ernst (Linke) sowie mit Maximilian Krah (AfD) und Anna Cavazinni (eine aus Hessen stammende Grüne, die in Berlin wohnt) zwei echte Geheimfavoriten, die auf ihren Bundeslisten auf Platz 3 und 7 starten – eine große Simulation: Mit 95 (!) sächsischen Schülern der 9. bis 12. Klassen, also vermutlich einigen Erstwählern, spielen sie eine Debatte im Europaparlament als Rollenspiel – ohne Lehrer, sondern echt mit Fraktionen und Landesgruppen sowie informellen interfraktionellen Absprachen zwischendurch, nach. 

Rölke war als JEF-Landeschefin für die ersten beiden, sehr gefragten SimEPs 2017 und 2018 in Sachsen federführend, nun übernimmt Sandner mit ihrer Hilfe. Thema wird allerdings nicht das akute Urheberrecht im Netz, sondern die gemeinsame Asyl- und Migrationspolitik. Sandner erklärt: Für eine eintägige Simulation seien Themen besser geeignet, die einerseits nicht zu technisch und andererseits auch für die Zielgruppe ethisch und moralisch anknüpfbar sind.

„Bislang wurden immer alle Kompromissvorschläge für eine Verordnung durch die Schülerinnen und Schüler abgelehnt, aber es ist dennoch erfolgreich“, erklärt Rölke. Lehrer und Eltern, die zur öffentlichen Debatte in die Landeärztekammer kommen, staunen nämlich nicht selten über plötzlich aufblühende Rednerinnen und hemdsärmlige Jungpolitiker. Sandner ergänzt: “Sie halten sich nicht immer an Absprachen – auch das gehört zur Politik. Aber sie merken in den zehn Stunden, wie anstrengend, aber aufregend die Suche nach mehrheitsfähigen Kompromissen ist.“ 

Ziel: Mehrheit für Europafreunde und 60 Prozent

So feierte man in Sachsen zuvor am 1. Mai am Dreiländerpunkt in Zittau– gemeinsam mit den vereinten Zittauer Kulturherzstädtern, den sogenannten Sächsischen Aufbaubänklern, die gern vor der Landeshauptstadtpresse in mildere MDR-Regionen an die Pleiße fliehen mögen, aber auch nicht preiswert und/oder gar pünktlich bauen können. Und auch die Europäischen Unionisten. Grund der Feier: 15 Jahre europäische Osterweiterung, genau dort begründet, als zum Kampftag 2004 das Europa der 15 zum Europa der 25 ward, so dass dort im Eck, nur noch Währungs- und Sprachgrenzen blieben. 

Zwei Randepisoden wurden in Stille erinnert: Das trinationale Jugendexzellenzorchester namens Europera (9. Oktober 1992 – 28. Mai 2016), dass just erst in dieser Förderperiode vor allem an europäischen Förderbedingungen, die trinationale Kultur auf engerem Raum nicht vorsehen, aus Euromangel in die ewigen Jagdgründe einging, spielte damals vor den drei Staatschefs Beethovens Neunte und gefeiert wurde unter dem Titel „Sternstunde Europas“ drei Tage lang. Die dabei versprochene Dreieckbrücke fehlt heuer noch immer, aber es gibt immerhin arg abgespeckte Pläne, die aber nun an EU-Förderung zu scheitern drohen, wofür das Technische Hilfswerk wie damals eine wacklige und laut knirschende Behelfsbrücke aufbaute, die damals auch Altkanzler Helmut Kohl trug, während sein Nachfolger Gerhard Schröder zum großen EU-Festakt nach Dublin (?) ausflog. Der Edic-Infotisch stand so wie die Bühne auf tschechischem Gebiet, jeneits der Lauitzer Neiße, das Fest tobte derweil auf allen drei Seiten, auf deutschen wie polnischen Gebiet unter jeweils unter einem fixen Kreuz am Symboleck.

Danach ist Wahltag. Was wäre ein Erfolg ihrer Arbeit? „60 Prozent Wahlbeteiligung wären toll“, erklärt Sandner. „Wichtig wäre ein Übergewicht der Proeuropäer im Parlament“, ergänzt Rölke. Einen Rollentausch, so wie es von den Schülern am 10. Mai einfordern, können sie sich als Planspiel, jedoch nicht in der Realität vorstellen. Beide schütteln lachend den Kopf auf die Frage hin, ob denn Parlamentarierin oder ein anderes Parteiamt ein Job für sie wäre.

Andreas Herrmann