Die Opfer werden lauter – und mählich zu Galliern

Die deutsche Energiewende verdreht mittlerweile ihren Hälsen die Luftröhre gewindeartig – die Restwelt dabei nur schulterzuckend die Augen

Was haben sie immer wieder den urdeutschen Atom- und Kohleausstieg gefeiert: Alles auf Erneuerbare hieß die Parole einer neuen Ära: Wind und Sonne werden ohne Rechnung und Nachfolgeschäden gemolken, Kerntechnik ist von gestern, Kohle verwüstet die Umwelt und verpestet die Luft, Kohlendioxid schädigt die Natur, wir Deutsche sind die Vorreiter im globalen Umweltbewusstsein – und unser Energiepreis wird nach der großen Wende ganz rasch sinken. So die Ansage.

Dresdner könnten es allerdings schon immer besser wissen, auch jene irgendwie auserwählte Entscheider, die sich als Fachpolitiker verstehen – zumal der Weg von Landtag (ein Steinwurf) oder von Staatskanzlei und Ex-Energieministerium (rund 3.000 Schritte) nicht zu weit erscheinen, um hier mal vorbeizuhuschen und begierig zu lauschen, was die Szene gegenüber den Taten unterkomplex denkender Energiewendehälse meint (vgl. »Vorwärts immer, Atomkraft nimmer« in SAX 11.2023).

Denn seit Jahren kommen rings um den alten Republikgeburtstag, also kurz bevor die Wintersemesterstudenten in Scharen in die Stadt einfallen, um in der Technischen Universität technisch-universelles Wissen in großen Dosen einzusaugen, rund eintausend Energieexperten in das herrliche Kongresszentrum am Dresdner Dostojewski-Ufer, wo man drei volle wie intakte Brücken direkt vor Augen hat – vermutlich der einzige echt mutige lokale Neubau der Postostmoderne (neben dem Kristallpalast, der allerdings verkehrt herum dasteht).

Grund: das legendäre »Kraftwerkstechnische Kolloquium«, welches just im Oktober seine 57. Edition feierte, sich als Austauschplattform der internationalen Kraftwerkstechnik versteht und unter wissenschaftlicher Leitung von zwei TU-Professoren als jeweilig maßgebliche Lehrstuhlinhaber steht: Michael Beckmann ist seit 2015 Professor für Energieverfahrenstechnik und gleichzeitig Direktor des Instituts für Verfahrenstechnik und Umwelttechnik, seit Januar 2020 gewählter Dekan aller so genannten Maschinenwesen an der TU Dresden und gleichzeitig als Sprecher für den Bereich Ingenieurwissenschaften quasi deren Schirmherr.  

Zweiter Mann hinter dem Kolloquium ist Antonio Hurtado, seit 2007 als Professor für Wasserstoff- und Kernenergietechnik nach Dresden berufen und von 2017 bis 2020 hauptamtlich Pro-Rektor für Universitätsentwicklung der TU. Er gönnt sich und seinem Behufe – gemeinsam mit den Kollegen Uwe Hampel und Wolfgang Lippmann – im großen Rahmen eingebettet, ganz oben im Konferenzraum 6, ein ganztägiges, dreigeteiltes »Kernenergetisches Symposium«, welches auch für Laien, die täglich in den Leitmedien hören, dass dies eine Technik von vorgestern sei, hochspannend erscheint – und zwar größtenteils auf Deutsch, mit leichter Vorherrschaft aus dem globalen Osten und mit einem breiten Spektrum außerhalb der deutschen Blase, derer zum Trotz Hurtado seine Dresdner Absolventen, die hier dann wieder referieren, als durchaus die besten weltweit bezeichnet, die überall mit Kusshand genommen, aber die Kernfrage in Dresden (wie auch in Zittau) bleibt: Wie lange bewahren die Institute und Lehrstühle noch ihren guten Ruf und ihre Anziehungskraft?

Mit Sonne, Wind, Wasser und Feuer 
Beide sind gewissermaßen Opfer der seltsamen Energiepolitik unserer Republik unter Führung der Berliner Genossen in den jüngsten beiden Dekaden. Denn Beckmann, Absolvent der Freiberger Bergakademie, übernahm seine Professur als Inhaber schon im November 2007, allerdings hieß sie noch »für Verbrennung, Stoff- und Wärmeübertragung« im Familiennamen, ehe er im heißen Sommer 2015 »umberufen« wurde.

Das Institut für Energietechnik mutierte zeitgleich zum »Institut für Verfahrenstechnik und Umwelttechnik«. In seinem professoralen Porträt-Fragebogen auf der TU-Netzpräsenz findet sich allerdings weiterhin ein Verweis auf den Urgrund für seine Berufswahl: »Ohne Verbrennung, Stoff- und Wärmeübertragung … würden Sonne, Wind, Wasser und Feuer uns nach wie vor mit Energie versorgen – bereits mit wenigen Grundlagen der Thermodynamik können wir jedoch viele Vorgänge verstehen und nutzen.« Er kümmerte sich den ganzen zweiten Konferenztag um die bereits dritte  Studentenkonferenz zum Thema Kreislaufwirtschaft – und damit leibhaftig um die Zukunft, wohin der Wissenschaftsminister seine Staatssekretärin zur Eröffnung entsandte.

Energie, Verbrennung und Wärme wurden also vor zehn Jahren als Begriffe einfach verfemt, die TU bekam einen grünen Anstrich: so schlicht wie diesen Sommer ein neues Logo. Solcherart plakative Imagewechsel nannte man in der Sowjetzone Agitprop – und damit war eigentlich schon alles gesagt. Was sich die DDR nicht hätte leisten können (und wollen), ist ein Abschied von fortschrittlicher Technik zuungunsten preiswerter Grundversorgung.

Daher ist die Biografie von Antonio Miguel Hurtado Gutierrez, im gleichen Jahr wie Beckmann berufen, eigentlich noch spannender: Er kam als Kind spanischer Gastarbeiter früh nach Duisburg und ward erst per Lehre Technischer Zeichner. Sein wundersamer Weg führte über Abendschule mit Fachabitur, Maschinenbaustudium und Mannesmann zur Promotion 1990 über Reaktorsicherheit und zur Habilitation zu innovativen Konzepten in der Kerntechnik anno 1996 (beides in Aachen), um hernach in zehn Berliner Jahren als Geschäftsführer in der Wirtschaft zu arbeiten. Vor seiner Berufung nach Dresden sanierte er noch nebenher als gewählter Aufsichtsratschef sowohl die Finanzen als auch das Stadion von Union Berlin und ward dort nach acht Jahren an der Spitze 2012 Träger der Union-Ehrennadel in Gold.   

Er beschreibt die zwingende Notwendigkeit seines Faches so: »Ohne Kernenergietechnik … gäbe es ein Energieversorgungsproblem anstatt eines Weltbevölkerungsproblems. Die rasant wachsende Bevölkerung zwingt uns, alle zur Verfügung stehenden Energieträger zu nutzen – auch die Kernenergie, die schon in den 1970er-Jahren als Lösung aller Versorgungsprobleme galt.« Zudem halten er und seinen Mannen den kleinen Minirektor, genannt AKR-2 mitten im alten TU-Campus am Laufen – mit zwei Watt Leistung reine Übungssache, aber für das Forschungsprojekt »Nautilus« unverzichtbar.

Das 57. Kolloquium seit 1968 wird natürlich vom gesamten Beckmann-Team, also 29 Mitarbeitern organisiert und ist für jene gedacht, die sich beruflich mit jenem Fünftel an menschlichem Energieverbrauch beschäftigt, der auf Strom beruht – also weniger für jene, die im Kühlschrank nachgucken, um die internationale Spannungslage zu erforschen. KWTK-Medienreferentin Sandra Leik kennt die genauen Zahlen des Jahrgangs 2025: 988 Teilnehmer (darunter 92 Referenten und 16 Posterautoren sowie 36 weitere TU-Angehörige als normale Teilnehmer), davon 815 externe Gäste als Genießer oder Beobachter – auch jener 105 Stände auf der Firmenmesse, die 244 Firmenvertreter plus eine große Brigade fleißiger Servicekräfte seitens des Kongresszentrums.

Beckmann und Hurtado bieten bereits im gemeinsamen Vorwort zum Tagungsband ihr Fazit: »Die politisch gesetzten Ziele der Energiewende in Deutschland – eine sichere, umweltfreundliche und bezahlbare Energieversorgung – scheinen vergessen zu sein.«
Die Nachfrage nach Landtagsmitgliedern – vor allem um das Interesse (oder die Kompetenz) des 18-köpfigen Ausschusses für Wirtschaft, Arbeit, Energie und Klimaschutz zu erkunden – blieb erfolglos: Keiner hatte Zeit und/oder Lust – darunter auch der Ex-Energie- oder Umwelt- oder Klimaminister. Dabei hätte dieser seine einstige Liebe zur Kreislaufwirtschaft in Anwendung studieren können, den diese stand zum dritten Male bei der eingebetteten bundesweiten Studentenkonferenz im Fokus.

Ostdeutsche Leuchttürme als Bittsteller  
Zur eröffnenden Podiumsdiskussion, die vor zwei Jahren (es war schon Vorwahlkampf) noch in einem medial beachteten Dreikampf von Ministerpräsident (»Wir sind die Falschfahrer, nicht die anderen!«), die Co-Obergrüne Ricarda Lang und die Wirtschaftsweiserin Prof. Veronika Grimm gipfelte, waren hingegen durchaus politische Akteure anwesend: Der Ex-TU-Kanzler Dr. Andreas Handschuh kam (mit schicker Fliege) als Chef der Sächsischen Staatskanzlei und einziger Politsachse. Dafür waren zwei Brandenbürger dabei: Für die SPD kam eigens unseres Panters Pendant, also der forsche Daniel Keller, kurz mit Ministerkarosse angedüst, während sich dessen CDU-Kollege Dr. Christian Ehler (promovierte in München zur US-Handelspolitik der Reagan-Ära) noch kürzer aus dem EU-Parlament in Brüssel zuschalten ließ. Dazu saß noch Dr.-Ing. Heiko Knopf, Jahrgang 1989 und grüner Jenenser Stadtrat, seit kurzem stellvertretender Bundesvorsitzender der Bündnisgrünen, im Podium. Letzterer hat im Gegensatz zu Lang (Humboldt-Law-Bachelor seit September 2025) und Keller (Hagener Fernbachelor seit Dezember 2014) schon seit längerem einen Studien- als Berufsabschluss und zudem ordentlich und durchaus fachgerecht promoviert.  

Viel wichtiger in der siebenköpfigen, reinen Herrenrunde, die sich politisch nur um Nuancen oder Selbstverständlichkeiten stritt, waren aber die beiden großen ostdeutschen Wirtschaftsbosse: Dr. Christof Günther kam als Geschäftsführer der InfraLeuna GmbH aus Leuna, wo inzwischen täglich rund eintausend Transaktionen an der Strombörse nötig sind, Adolf Roesch als Vorstandsvorsitzender der LEAG GmbH aus Cottbus, letzterer ist auch als Beiratsmitglied beim Kolloquium aktiv. Sie setzen die Akzente in der vom eloquenten Jürgen Pfeiffer (mit drei f), der es als Journalist von Arte in Paris über RTL in Berlin zum Pressesprecher bei Ferrari und TetraPak brachte (und sich nunmehr »Der Pfeiffer« nennt), durchaus bissig moderierten Diskussion, denen kurze Impulsreferate voran gingen. Und nahezu jede kernige Aussage gegen Energiewendehälse bekam Szenenapplaus.

Das Ohr am Rohr
Die beiden vielleicht wichtigsten Ostindustriebosse wirkten sehr seriös und souverän, Günther sprach fürs größte, in sich geschlossene Chemiecluster der BRD, welches für uns erst hinter den mitteldeutschen Braunkohlewasserdampfwolken wohnt, also für mehr als 100 ansässige Unternehmen mit rund 15.000 Beschäftigten und einer »hochintegrierten Energie- und Stoffversorgung“, für die Sicherheit und Planbarkeit ein notwendiger Stützpfeiler ist. Denn InfraLeuna ist als Betreiber der Energie- und Medieninfrastruktur zuständig, stellt Strom, Dampf, Heißwasser, Druckluft und Gas bereit und trägt die Verantwortung für die Weiterentwicklung des gesamten Energiesystems. Nur kommt, bei 58 Prozent Energieimport, das Gas für die EU (in dieser Reihenfolge) aus Norwegen, den USA, Algerien, Russland, dem Vereinigten Königreich, Aserbaidschan und Katar. Sein Fazit, schon in der 996-seitigen ersten Blitzausgabe des Tagungsbandes nachlesbar: »Der einsame Ausstieg Deutschlands aus Atomenergie und Kohle erfolgt bislang ohne belastbaren Plan zur Kompensation der entfallenden planbaren Erzeugungsleistungen. Der weitere Ausbau von Wind- und Solarenergie schließt diese Lücken nicht.« Und: »Die Diversifizierung von Energiequellen und -partnern wurde in Deutschland sträflich vernachlässigt. Optionen wie die Wiederinbetriebnahme stillgelegter Pipeline-Infrastrukturen sind realistisch zu prüfen.«

Für Erstaunen bis Furore sorgte auch Prof. Dr.-Ing. Konrad Vogeler, der bis 2015 die Professur für Turbomaschinen und Flugantriebe innehatte, vor reichlich 40 Jahren eine Dissertation mit dem herrlichen Titel »Gitter mit harmonisch schwingenden Schaufeln in Überschallströmung« schrieb und nun als Seniorprof mitten in der Stockholmer Nobelpreiswoche hier (ausgerechnet unter Wasserstoffexperten) mit seiner Idee aufwartete: Flüssiges, also gekühltes Methan statt Wasserstoff sollte als Energieträger in die Ex-Gasleitungen gepumpt werden – das ist technologisch beherrschbar und auch bei der Kühlung energetisch besser, wie er anschaulich vorrechnete.

Unter acht Prozent Rendite dreht sich nichts
Nun muss man ja nicht, wie es die Medien gemeinhin tun, bei Problemen im feuchten Sumpf immer nur die Frösche zu ihren ureigenen »Herausforderungen« fragen, aber man könnte Leute, die drei bis vier Dekaden Facherfahrung auf Weltniveau in sich vereinen, in einer entwickelten und in Funktionssysteme ausdifferenzierten postmodernen Gesellschaft durchaus mal ernsthaft befragen, was sie zu gewissen Plänen meinen, zumal wenn man (wie die kernenergiebefreite BRD) nach dem japanischen Rückfall ganz allein auf weltweiter Flur (der großen Industrienationen) reitet.  

Doch mittlerweile dreht sich der Wind, der Widerstand gegen die aus teurem Strom logisch folgende Deindustrialisierung – auf elektrische Art eigentlich in Ohm qualifizierbar und als Quotient von Spannung durch Stromstärke genau zu bemessen – wächst, wobei beim Kolloquium noch ganz andere, viel komplexere Formeln durch den Raum schallten – und vor allem die Rendite von Strommachern und deren Investoren die Ohren von Fachpolitikern hätten arg erröten bis verglühen lassen, wenn sie denn da gewesen wären: Denn unter acht Prozent dreht sich gar nichts.

Und diese werden sie bekommen, solange die Elektrifizierung von den Klimawendewandlern als Lösung für die Emissionsvermeidung von Kohlendioxid gesehen wird, denn so würde sich der Endenergiebedarf (laut Energieeffizienzgesetz) bis 2045 verdreifachen. Manche träumen dabei noch von grünem Wasserstoff – zuvor sollen es noch rasch zu bastelnde Gaskraftwerke richten. 

Die Dresdner Gallier – umzingelt von kernigen Freu(n)den
Nun mögen sich die Dresdner TU-Energieexperten innerhalb Deutschlands noch als widerborstige Gallier sehen (und gesehen werden), weil sie den endgültigen Ausstieg aus der Kernenergie klar als »ideologischen Fehler« und die Einführung eines durch Steuereinnahmen oder Schulden subventionierten Industriestrompreises als »Augenwischerei« geißelten. Aber die davon galoppierende internationale Entwicklung spricht für sie – und sogar die Brüsseler EU gibt grünes Licht (und grünes Dealergeld) bei Kernenergieinvestionen. All unsere Nachbarländer schwören auf Atomkraft, gern auf kleinere, transportierbare Reaktoren (SMR), zum Beispiel auf Natriumbasis in der Größe von Schiffscontainern. Bei der Kernrunde sorgte so eine Weltkarte vom Bureau Veritas mit den kleinen Reaktorenprojekten für Aufmerksamkeit: Asien hat 38 Projekte, Amerika in Summe 27, Europa 22 – davon 13 in Frankreich und Großbritannien. Auch Südafrika hat vier, Tschechien und Dänemark je zwei und die Schweiz, Niederlande und Italien gönnen sich so wie Finnland und Schweden zumindest eins. Und neuerdings spricht der rhetorisch immer noch sehr frische Bundeskanzler (samt seiner NRW-Courtage) in urdeutscher Maulheldenmanier bereits vom Vorreitertum in Sachen baldiger Kernfusion – angesiedelt und gefördert natürlich nur in Jülich.  

Doch im Ernst könnten bereits in zwei, drei Jahren erste Erkenntnisse weltweiter SMR-Prototypen in Dresden präsentiert werden. Natürlich nur in Friedenszeiten – und möglichst ohne weitere Berliner Fehlschlüsse ideologischer Art. Vielleicht kommen dann auch wieder Landesvater, Wissenschafts- und/oder Energieminister mal rüber, denn 2029 soll ja schon wieder gewählt werden. Und bei einem Votum pro Kernkraft läge man gar voll auf Linie von EU sowie Weltklimarat und der Weltenergiebehörde IEA, die schon lange feststellte, dass ohne Kernenergie der Aufbau nachhaltiger Energiesysteme sowohl schwieriger als auch riskanter und teurer werde.
Andreas Herrmann

Netzquellen: www.kraftwerkskolloquium.de