Dresden kippt auf jeden Fall

Der Lagerwahlkampf vor den Kommunalwahlen am 26. Mai


Kippt Dresden bei den Kommunalwahlen am 26. Mai, und wenn ja, wohin? Nach rechts natürlich, wo der Abgrund lauert, in Dresden und in ganz Europa. Aber nein, die Rechten sehen doch gerade links den Abgrund für das lieb Vaterland, das es zu retten gilt! Die Apokalypse droht also in jedem Fall, auch wenn die jeweils andere Hälfte davon gar nichts bemerken sollte. Doch, alle werden es spüren, warnt ein loses buntes Bündnis »Dresden kippt« mit Schwerpunkt in der »linksgrün versifften« Äußeren Neustadt. Denn aus seiner Sicht gilt es, Errungenschaften der seit 2014 bestehenden Quasi-Koalition von Linken, Grünen, SPD und Piraten zu verteidigen.

Erfolgs- und Schreckensbilanzen

Wer oder was also wurde geschafft und errungen, und was gilt es beim Marsch in ein stramm konservatives Dresden wieder niederzuringen? »Die Linke hat Dresden gerechter gemacht«, behauptet beispielsweise Fraktionschef André Schollbach von der Linken-Stadtratsfraktion. Belegen kann er das unter anderem mit dem Sozialticket, das im vergangenen Jahr 16.798 Bürger nutzten. Es ist gekoppelt an den Dresden-Pass für sozial Bedürftige und halbiert die Fahrpreise in öffentlichen Verkehrsmitteln. Auch die Wiedergründung einer kommunalen Wohnungsbaugesellschaft WID führt Schollbach an. Eine auch bundesweit beachtliche Trendwende nach dem Totalverkauf von 47.000 WOBA-Stadtwohnungen 2006, der die damalige PDS-Fraktion spaltete. Die Befürworter unter den Sozialisten, damals von der Verlockung einer Entschuldung der Stadt überwältigt, sind nach der Hufeisentheorie heute fast alle im gegenüberliegenden Lager zu finden.

Nach wiederholten Problemen sollen die ersten der 800 Dresdner Sozialwohnungen im Herbst dieses Jahres fertig werden. Paradoxerweise wirft CDU-Fraktionschef Jan Donhauser RGR diese bescheidenen Ergebnisse vor, obschon die Konservativen sozialen Wohnungsbau ablehnten und bestenfalls auf die Genossenschaften setzen. Finanzbürgermeister Peter Lames (SPD) beschreibt im DNN-Interview die Folgen des Verkaufs für den Dresdner Wohnungsmarkt und spricht von einem »erheblichen Verlust an eigener kommunaler Gestaltungskraft«. Er vergleicht die heutige Situation ohne kommunales Wohnungsregulativ mit dem Verlust eines Werkzeugs, das man jetzt mühsam mieten, leihen oder auf das man verzichten muss.

Ein von den Linken bereits 2012 initiierter Bürgerentscheid bewahrte die beiden städtischen Krankenhäuser vor der Privatisierung. In den Augen Schollbachs ebenfalls ein Erfolg, obschon das Klinikum derzeit in den roten Zahlen steckt. Die Haushaltsschwerpunkte der vergangenen Jahre hätten eine Verschiebung zuguns-ten der schulischen und vorschulischen Bildung gebracht, resümiert die Grünen-Fraktionsvorsitzende Christiane Filius-Jehne. »Infrastruktur hieß früher Straße und Beton, heute meint es Investitionen in die Köpfe«, bringt sie es auf den Punkt. Allerdings verfügt Dresden immer noch nicht über eine vom Kultusministerium genehmigungsfähige Schulnetzplanung. Jan Donhauser macht für das »Chaos« die »Verschlimmbesserungen« von RGR verantwortlich, diese wiederum den Ressortchef und ehemaligen Finanzbürgermeister Hartmut Vorjohann. Auf den Schulcampus in Tolkewitz ist die bisherige Stadtratsmehrheit stolz, aber dass sich der stockende Bau des Schulcampus’ Pieschen an der Gehestraße auf die Hundert-Millionen-Kosten zubewegt, will die CDU wiederum nicht akzeptieren.

So geht es im Rückblick auf die fünf RGR-Jahre hin und her. Jan Donhauser stören am meisten die »zu engen Vereinbarungen von RGR, die eine sachliche Zusammenarbeit behindern«. Nie zuvor sei aber die Bürgerbeteiligung so ausgeprägt gewesen wie in den vergangenen fünf Jahren, resümieren Grüne und Linke. Die im März auch nach dem Verlust der eigenen Mehrheit verabschiedete Bürgerbeteiligungssatzung sehen beide als großen Erfolg an. Besonders viele Bürgerkonferenzen zu Projekten, die erstmals mögliche Direktwahl der Stadtbezirksbeiräte am 26. Mai oder das Kinderbüro und die Kinderbeauftragte könnten als weitere Beispiele dienen.

Jan Donhauser und die CDU interpretieren dies als »mehr Bürokratie ohne Qualitätszuwachs«. Eine Folge sei die Verlangsamung von Prozessen, die bei aller Bürgermitwirkung letztlich doch in Rat oder Verwaltung entschieden werden müssen. »Der Bürger erwartet Ergebnisse«, sagt Donhauser und sieht in der Bürgerbeteiligungssatzung »nichts Gutes, nur einen Pyrrhussieg«. Die aktuell rund 3.000 Einwendungen gegen die eigentlich schon zu Beginn der Legislaturperiode 2014 beschlossenen Pläne zum Ausbau der Königsbrücker Straße sind für Union oder FDP ein abschreckendes Beispiel für die Handlungsunfähigkeit angesichts breiter Bürgermitwirkung.

Stichwort Verkehrsprojekte. Dass an der seit Erich Kästners Zeiten unveränderten Königsbrücker Straße nicht längst gebaut wird, schiebt André Schollbach der zähen Verwaltung zu. Überhaupt sabotiere sie teilweise Stadtratsbeschlüsse wie etwa den zur Beräumung auch von Radwegen bei Schneefall im Winter. Doch die trägen Bürokraten und Formalisten, denen für 160 Millionen Euro im Stadtzentrum ein neuer Tempel mit Turm gebaut werden soll, kann man am 26. Mai nun einmal nicht abwählen. OB Dirk Hilbert servierte derweil ein Wahlgeschenk, als er den für zahlreiche Schildbürgerstreiche letztlich verantwortlichen Straßen- und Tiefbauamtsleiter Reinhard Koettnitz kurz vor dessen Pensionierung ins Schulverwaltungsamt versetzte. An wem es liegt, dass von der Umsetzung des Radverkehrskonzeptes kaum etwas zu spüren ist, bleibt offen. Christiane Filius-Jehne weist auf die sieben neuen Radplanerstellen hin. Die SAX wird in der nächsten Ausgabe dieser Frage nachgehen.

Die neuen Kulturstätten 
sind Kult

Für die kommunalen Kulturstätten bedeuteten die vergangenen fünf Jahre einen Quantensprung. Mit der Einweihung des Kulturkraftwerks Mitte/Ende 2016, neuer Standort von Staatsoperette und Theater Junge Generation, und dem 2017 vollendeten Umbau des Kulturpalastes haben sich vor allem die am kontinuierlichsten für diese Projekte streitenden Grünen mit Christiane Filius-Jehne ein Denkmal gesetzt. Auch die ehemalige Oberbürgermeisterin Helma Orosz (CDU) verdient eine Würdigung, als sie 2011 auf ein Veto gegen den mithilfe der Bürgerfraktion mühsam zustande gekommenen Kraftwerksbeschluss verzichtete. Es bedurfte allerdings eines Anlaufs von 25 Jahren gegen die Konservativen. CDU und FDP, aber auch OB Dirk Hilbert hatten den Sekt nicht verdient, den sie zur jeweiligen Eröffnungsgala tranken. 

Kulturbürgermeisterin Annekatrin Klepsch ist dankbar für die »seltene Chance, die Einweihung zweier Großeinrichtungen begleiten zu dürfen«. Sie bleibt ja noch bis 2022 im Amt. Als eigentliche Hauptaufgabe ihrer bisherigen Amtszeit bezeichnet sie die erfolgreiche Rekommunalisierung des Heinrich-Schütz-Konservatoriums. Der Kulturentwicklungsplan ist fertig, und der Stadtrat gibt der Freien Szene zumindest 400.000 Euro mehr, auch wenn der Bedarf eigentlich viel höher liegt. Auch die Rettung der Villa Wigman an der Bautzner Straße in Gesprächen mit dem Freistaat oder der Denkmalschutz für die Reste der Ostmoderne in Dresden schlagen positiv zu Buche.

Boomtown löst Zukunftsprobleme nicht

Begünstigt wurden kommunale Großausgaben durch fette Steuereinnahmen, auch wenn die im Bundesvergleich immer noch weit unten liegen. Die Landeshauptstadt lässt den ewigen Konkurrenten Leipzig inzwischen wieder hinter sich und kann sich aktuell über einen Haushaltüberschuss von 177 Millionen Euro freuen. Aber spüren die Bürger etwas davon? Angeblich geht es ihnen nach Umfragen so gut wie nie zuvor. Vertreter der bisherigen Stadtratsmehrheit hören die These gar nicht gern, dass Reiche in der Boomtown Dresden zwar sehr schnell noch reicher werden können, die Zukunftsprobleme der Stadt aber ungelöst bleiben.

Mieten und Grundstückspreise explodieren, der Anstieg der Vergleichsmieten liegt in einigen Stadtteilen wegen des Luxuswohnungsbaus über der Kappungsgrenze. »Der Stadtrat kann den Kapitalismus nicht aushebeln«, zuckt der Linke Schollbach mit den Achseln. Immerhin wolle man den Immobilienhai Vonovia mit einer Tiefenprüfung »an die Kandare nehmen«. Und nach Redaktionsschluss wollte der Stadtrat im April erstmals eine Mietpreisbremse beschließen. Verkehrs- und Stadtentwicklungsprobleme sind schon benannt, der Schulbau ebenfalls. Frei- und Kreativraum wird immer knapper, Jugendhilfe und Sozialausgaben sind bedroht.

Mobilisierungseffekt des Mehrheitsverlustes

Doch nun soll ja alles viel besser werden. Eine mögliche Abwahl der RGR-Kooperation wurde im vergangenen November vorweggenommen, als drei beleidigte Stadträte der Umfaller-partei SPD und der ehemalige Direktor des Hannah-Arendt-Instituts Gerhard Besier von den Linken desertierten. Seither hat RGR die eigene Mehrheit im Stadtrat verloren. Es läuft praktisch das Leipziger Modell wechselnder Mehrheiten. Sachkompromisse wünscht sich CDU-Fraktionschef Donhauser auch für die kommende Legislaturperiode. Denn eine feste Kooperation mit der AfD schließt er zwar aus, wäre ja auch ein zu fatales Signal für die Landtagswahl am 1. September und gegen die vorläufige offizielle Linie der Landes-CDU. »Aber wir können es nicht verhindern, dass die mitstimmen«, lässt er alle Möglichkeiten offen.

Genau davor, vor einer stillen Koalition zwischen Schwarz, Blau, Gelb und Braun warnt »Dresden kippt«. Aufklären wolle man, und ein positives eigenes Kommunalwahlprogramm wäre wohl ein bisschen viel verlangt, sagt Sprecherin Sarah Urban. Schien RGR vom Verlust der Mehrheit zunächst etwas paralysiert, so sehen sie und »Dresden kippt« diese Fraktionsaustritte inzwischen sogar als Wahlkampfhilfe an. »Die Leute sehen, was mit einer schwarz-gelb-blau-braunen Mehrheit passieren würde, nämlich die Abkehr vom Bild einer modernen Stadt«, beobachtet Christiane Filius-Jehne. Beispiele sind bereits abgelehnte Radverkehrsprojekte an der Albertstraße oder am Zelleschen Weg oder die verkehrsberuhigte Augustusbrücke. Einschnitte bei der Jugendhilfe und Sozialausgaben werden befürchtet. Das AfD-Programm müsste eigentlich hinreichend abschreckend wirken, wenn sie die städtische Wohnungsgesellschaft liquidieren und aus dem Festspielhaus Helle-rau mit einem angeblichen Ensemble einen Eventtempel machen wollen. Hoffentlich liest das das europäische Kulturhauptstadtkomitee nicht!

»Die CDU und ihre Spießgesellen haben die Maske fallenlassen«, spitzt André Schollbach als das auch in der eigenen Linksfraktion umstrittene Enfant terrible einmal mehr zu. Er hält übrigens »verlässliche Mehrheiten« in einer Halbmillionenstadt für besser als wechselnde Abstimmungen wie in einem kleinen Gemeinderat. Der Mobilisierungseffekt ist nicht nur bei Parteieintritten und beim Wahlkampfengagement spürbar, sondern auch auf der Besuchertribüne des Plenarsaales im Rathaus bei brisanten Themen zu beobachten. Zu einem Streitgespräch über Wohnen und Stadtentwicklung zur an sich unmöglichen Samstagabendzeit kamen immerhin noch 80 Interessenten ins Rathaus. Die eingeladene AfD allerdings nicht. 

Weiß man bei der AfD ungefähr, was einen erwartet, so geben die Freien Wähler Rätsel auf. »›Freie Wähler‹ klingt harmlos, aber das Personal lässt eher ein Trojanisches Pferd vermuten«, analysiert die Grüne Filius-Jehne. Pegida-Mitgründer René Jahn und die Loschwitzer Buchhändlerin Susanne Dagen bilden ein »Traumpaar«, Jens Genschmar, dem die FDP zu links war, und die von links nach gegenüber gewanderte Barbara Lässig runden das Bild ab.

Wird wachsende Basisaktivität eine konservativ-reaktionäre Mehrheit im frisch renovierten Ratssaal verhindern? Eine starke Polarisierung im Wahlkampf zeichnet sich bereits ab. Bei der Vorstellung ihres Kommunalwahlprogramms vergoss ausgerechnet die AfD Krokodilstränen ob der »zunehmend gespaltenen Stadt«. In der Tat sind alle in der Zeit der Straßenkämpfe seit 2015 entstandenen institutionalisierten Dialogversuche wieder eingeschlafen. Dass alle Dresdner plötzlich zu Brüdern und Schwestern werden, ist auch nach dem 26. Mai nicht zu erwarten.
Michael Bartsch