"Ein sensationelles Zeitzeugnis"
Ein fast vergessenes Jubiläumskonzert der Dresdner Rockband Electra ist erschienen – ein Interview mit Bernd Aust
Zum zwanzigjährigen Gründungsjubiläum veranstalten Electra zwei exklusive Konzerte im Dresdner Kulturpalast, die mitgeschnitten, aber nie veröffentlicht werden. Immerhin, wir sprechen hier über den April 1989. Der Wendeherbst liegt bereits in der Luft. Nicht mehr lange, und über Nacht wird hinfällig, was bis eben noch wichtig erschien. Umso erfreulicher, dass das fast vergessene Zeitzeugnis jetzt auf Tonträger vorliegt, ergab eine Interviewverabredung von Bernd Gürtler mit Bandchef Bernd Aust.
SAX: Prominent besetzt war euer Jubiläumskonzert! Gastauftritte absolviert unter anderem Stephan Trepte, der wenig überraschend "Tritt ein in den Dom" singt, das berühmte epische Rockstück aus seiner ersten Mitgliedsphase bei Electra, bevor er zu Lift wechselt und Reform mitbegründet. Wie findest du die Version von damals im Unterschied zum Original aus dem Jahr 1972?
Bernd Aust: Das Original war Stephans erste professionelle Studioeinspielung und er ein junger Mann, der erkennbar unter dem Eindruck der Gegebenheiten stand. Locker umgehen konnte er mit der Situation noch nicht. Gesungen sind beide Versionen hervorragend, über die Jahre bloß mit mehr Lebenserfahrung in der Stimme.
SAX: Das markante Keyboardmotiv kam ursprünglich von einer Hammond Orgel. Beim Jubiläumskonzert konntet ihr auf die Pfeifenorgel des Dresdner Kulturpalasts zurückgreifen.
Bernd Aust: Das Instrument ließ sich bei Bedarf auf die Bühne fahren, richtig, und wurde von uns genutzt. Zum einen klingt "Tritt ein in den Dom" dadurch imposanter. Zum anderen macht eine Pfeifenorgel optisch mehr her. Konzerte sind Gesamtkunstwerke, nicht bloß Musik.
SAX: Euer Organist im Kulturpalast war Christian Mögel. Erinnerst du dich?
Bernd Aust: Sicher! Er ist bei der KGD, der Konzert- und Gastspieldirektion der DDR, beziehungsweise im Komitee für Unterhaltungskunst tätig gewesen. Ein umtriebiger Zeitgenosse, der einiges bewegt hat in Dresden.
SAX: Die Synchronisation zwischen Pfeifenorgel und der Rockband Electra gelingt perfekt. Wie wurde das bewerkstelligt? Damals gab es noch keinen Clicktrack, diesen elektronischen Impulsgeber, der den Musikern auf Konzertbühnen als einheitliches Metrum über einen Knopf im Ohr zugespielt wird.
Bernd Aust: Der Clicktrack kam erst später, wir mussten uns rein auf unser Gespür verlassen. Wenn ich den Konzertmitschnitt von damals höre, bin ich begeistert, wie gut wir gewesen sind.
SAX: Peter Ludewig, Electras andere prominente Sängerpersönlichkeit, war ebenfalls mit einem Gastauftritt vertreten. Neben den beiden Paradestücken aus seiner früheren Bandmitgliedschaft, "Das kommt, weil deine Seele brennt" und "Der grüne Esel", singt er "Der Tenor" aus seinem Soloprogramm.
Bernd Aust: Die Gastsänger sollten eigene Stücke beisteuern, das war uns wichtig. Stephan Trepte brachte von Lift "Seh' in die Kerzen" mit, dazu "Deinetwegen" von seiner kurzlebigen Duoformation T + W mit Peter Werneburg. Peter Ludewig gab den "Tenor" zum Besten.
SAX: Seine Darbietung hat etwas Kabarettistisches. Lag ihm das?
Bernd Aust: Unbedingt! Beim "Grünen Esel" sprang er in einer Eselmaske über die Bühne. Peter Ludewig kam vom Theater, er war in Görlitz Tenor im Theaterchor, wollte aber immer Schlagzeuger werden und bewarb sich an der Hochschule für Musik Carl Maria von Weber in Dresden. Wenn er sang, hieß es anfangs: Was wollt ihr mit dem Opernsänger? Bei Studioterminen im Rundfunk wurde das nicht verstanden, einen Freddie Mercury kannte noch keiner. Aber für uns hat es gepasst, Electra sind nie die typische Rockband gewesen.
SAX: Was meinst du?
Bernd Aust: Stilistisch bot sich ein ziemliches Durcheinander. Wir hatten Jazzrock von Blood Sweat & Tears im Programm. Daneben Jethro Tull, die für uns keinesfalls die Nummer eins gewesen sind, was Vorbilder anbelangt. Ian Anderson spielte interessant Querflöte, seine Band war bekannt, wodurch sich uns eine Möglichkeit auftat, uns auszudrücken. Aber "Tritt ein in den Dom" zum Beispiel war angelehnt an Czesław Niemen. Deshalb hatten wir Stephan Trepte zu Electra geholt. Sein Gesang ähnelte dem des polnischen Musikerkollegen verblüffend. Wir lebten in Dresden im Tal der Ahnungslosen, wir sind vom Alltagsrock der Westmedien verschont geblieben, unsere Vorbilder konnten wir uns aussuchen. Je nachdem, was an Schallplatten verfügbar war, daran orientierten wir uns.
SAX: Du selbst absolvierst einen Soloauftritt mit deiner Querflöte und Wolfgang Amadeus Mozarts "Türkischer Marsch" vom Album "Adaptionen". Gegen Ende wird kurz Jethro Tulls "Aqualung" angedeutet, bevor sich nahtlos "Locomotive Breath" anschließt. Eine echte Sternstunde!
Bernd Aust: Heute würde ich das gar nicht mehr hinkriegen. Nach wie vor übe ich fast täglich und trete ab und zu noch auf, merke aber, dass ich älter geworden bin. Damals war das mein tägliches Brot. Am Schluss von "Locomotive Breath" warf ich immer meine Querflöte in die Luft, was kein Problem war in den Konzertsälen, in denen wir normalerweise aufgetreten sind. Die Saaldecken sind nie besonders hoch gewesen, ich konnte mein Instrument nicht aus den Augen verlieren. Anders im Kulturpalast mit seiner sehr, sehr hohen Saaldecke. Ich warf meine Flöte so hoch, dass der Scheinwerfer nicht mehr folgen konnte, die Flöte in einem schwarzen Loch verschwand und plötzlich neben mir auf den Bühnenboden krachte. Zum Glück konnte ich mir ein Instrument leihen.
SAX: Euer amtierender Sänger zum Zeitpunkt des zwanzigsten Gründungsjubiläums war Manuel von Senden. Wie fand er zu Electra? Habt ihr ein Casting veranstaltet?
Bernd Aust: Kein Casting, wir hätten gar nicht gewusst, wie sich das schreibt. Mir war zu Ohren gekommen, dass es in Leipzig jemanden gibt, der von seiner Stimmlage passen könnte. Ich fuhr zu einem seiner Auftritte und schaute ihn mir an.
SAX: Manuel von Sendens Vorgänger sind eher Soulsänger gewesen. Er selbst kam von der Klassik, oder?
Bernd Aust: Man muss wissen, dass sein Vater Opernregisseur war. Privat besaß er keine einzige Rockschallplatte. Er stand auf Richard Wagner, dorthin wollte er. Leider ist uns das nicht bewusst gewesen. Wir merkten bloß, dass er, wenn er Wagner gehört hatte, ganz schlimm gesungen hat. Nach einer gewissen Weile ging es jedes Mal wieder. Bekanntlich ist er dann in die Klassik gewechselt.
SAX: Er ist konkret an die Semperoper Dresden gewechselt. Durch Jürgen Karney, den Moderator der Hitparadensendung Bong im DDR-Fernsehen, der durch euer Jubiläumskonzert geführt hat, wurde sein Abschied von der Bühne herunter vor versammeltem Publikum bekanntgegeben, ohne, dass die Band eingeweiht war. Wie hat sich das angefühlt?
Bernd Aust: Nicht anders als wenn du die Nachricht erhältst, dass dein Vater und deine Mutter soeben einem tragischen Verkehrsunfall zum Opfer gefallen sind. Eine Band ist ein sensibles Gefüge, sechs verschiedene Charaktere, die zusammengehalten sein wollen. Diejenigen, die von Anfang an dabei waren, sind am unkompliziertesten gewesen. Wir sind gemeinsam bei Minusgraden auf dem Planwagen zum Auftritt gefahren. Das blieb den später Dazugekommenen erspart. Manuel von Senden ließ sich von unserem Manager in der Tatra-Limousine durch die Gegend karren. Die Art und Weise, wie er gegangen ist, nehme ich ihm sehr stark übel. Es ist normal, dass jemand andere Wege einschlagen will. Das aber bei einer Gelegenheit wie unserem Jubiläumskonzert auf der Bühne verkünden zu lassen, das war brutal. Und Jürgen Karney hat sich bestimmt nicht verplappert, das hat Manuel ihm gesteckt. Dass unsere Verwirrung dem Konzertmitschnitt nicht anzuhören ist, ist eine Superleistung der gesamten Band. Zum Glück kehrte Stephan Trepte zu uns zurück, so dass wir nahtlos weitermachen konnten. Dass wir nach 1989 gar keine Auftritte mehr bekamen, weil das Interesse an uns Ostbands schlagartig erloschen war, das war natürlich noch brutaler.
SAX: Kurz nach der Wende wurde bekannt, dass Manuel von Senden inoffizieller Mitarbeiter der DDR-Staatssicherheit war. Wie ist euch das vorgekommen?
Bernd Aust: Menschlich hatte ich mit ihm sowieso abgeschlossen. Ich bin niemand, der dann noch verhandelt. Er war so fair, dass er Stephan Trepte wieder eingesungen hat. Das hat ihn zwar angekotzt, aber dazu habe ich ihn verdonnert, wir mussten wenigstens die Konzerte bewältigen können, die wir noch hatten. Dann kam Thomas Stelzer mit der Idee, eine Weihnachtsplatte aufzunehmen, und ob Manuel nicht singen könnte. Ich dachte, okay, rufst ihn an. Er aber meinte, er sei zu beschäftigt. Und dann rollte eines schönen Tages ein Fax aus meinem Faxgerät, darauf abgebildet Manuel von Senden und die Semperoper schrieb, dass der Verdacht einer IM-Tätigkeit aufgekommen sei, sie aber hinter ihrem Sänger stünden, solange keine stichhaltigen Beweise vorlägen. Die Bild-Zeitung ging der Sache nach und wurde fündig. Plötzlich rief Manuel an, dass er jetzt doch Zeit hätte für das Weihnachtsalbum. Ich meinte bloß: Manuel, "Stille Nacht, heilige Nacht" werde ich mit dir bestimmt nicht mehr aufnehmen.
SAX: Hat er sich irgendwann zu seinen Beweggründen geäußert, weshalb er sich hat einspannen lassen?
Bernd Aust: Wenn jemand in einem Bandverbund wie bei Electra nur halbwegs aus der Reihe tanzt, macht sich jeder seine Gedanken. Zum Beispiel war Manuel nie das gesamte Konzert über mit dem Rest der Band auf der Bühne. Unser Manager war auch nicht immer mit uns auf der Bühne und erzählte, Manuel würde in unseren Taschen stöbern. Wir machten uns keinen Kopf, wir dachten, der ist halt neugierig. Aber dann bekam er sehr schnell einen Telefonanschluss, ich als Bandchef musste fünfzehn Jahre warten. Nachdem er die Fahrprüfung abgelegt hatte, bekam er schneller als gewöhnlich ein Auto. Was mich aber wirklich gewundert hat, war, dass er bei Auftritten in Westberlin seine Ehefrau mitnehmen durfte. Das war eigentlich absolut unmöglich. Die Ehefrauen, die Familien sind das Faustpfand gewesen, für den Fall, dass jemand daran dachte, im Westen zu bleiben. Trotzdem, wirklich damit gerechnet hatte ich nicht. Als ich ihn fragte, weshalb er für die Staatssicherheit spioniert hat, antwortete er: Einmal Tschekist, immer Tschekist. Was das auch bedeuten mochte, ich entgegnete: Tut mir leid, da kann ich dir nicht helfen. Es bestand keinerlei Not für ihn, aber ich würde sagen, vom Charakter her hielt er sich für etwas Besseres. Selbst wenn es unfair ist, wenn ich das jetzt sage, ohne dass er sich hier äußern kann. Aber viele Adlige hatten ihr „von“ abgelegt, weil sie das affig fanden. Er hat es vor sich hergetragen. Er wollte eben nicht im Bandbus mitfahren, sondern von unserem Manager chauffiert werden. Es ist ihm auf die Füße gefallen, dass er die Stasi für sich nutzen wollte und dachte, das hätte keinerlei Konsequenzen.
SAX: Stichwort Konzertauftritte in Westberlin. In deinem Booklettext zum Jubiläumsalbum liest sich das, als sei das eine Selbstverständlichkeit gewesen?
Bernd Aust: Für uns war es das, wir konnten ab 1981 rüberfahren. Das sind keine Riesenkonzerte gewesen, aber es hat wirtschaften geholfen. Unsere Argumentation war: Wenn wir weltmarktfähige Musik machen sollen, benötigen wir weltmarktfähige Instrumente. Und um dubiose Schwarzmarktgeschäfte zu vermeiden, muss es uns möglich sein, die finanziellen Ressourcen selbst zu erwirtschaften.
SAX: Ein weiterer Gast eures Jubiläumskonzerts im Kulturpalast war Opernsänger Gunther Emmerlich.
Bernd Aust: Er hatte uns zu seiner zu DDR-Zeiten recht beliebten Fernsehshow "Showkolade" eingeladen. Also dachten wir, laden wir ihn zu unserem Jubiläumskonzert ein. Er sollte bloß nichts aus seinem Opernrepertoire singen. Was er nicht tat, er entschied sich für "Hi-De-Ho" von Blood Sweat & Tears und ist in "Nie zuvor" sowie "House Of The Rising Sun" zu hören.
SAX: Willst du noch die drei Backgroundsängerinnen vorstellen?
Bernd Aust: Katrin Lipske war die Ehefrau von Ecki Lipske, der später als Gitarrist zu uns stieß; gemeinsam sind die beiden als Countryduo Drugstore unterwegs gewesen. Martina May war Sängerin bei der Dresdner Gruppe Generator. Annette Hermann kam durch die beiden dazu. Sie haben das sehr gut gemacht, die drei.
SAX: Und an Gitarre, Bass, Schlagzeug sowie Keyboards Gisbert Koreng, Wolfgang Riedel, Volker Fiebig sowie Andreas Leuschner.
Bernd Aust: Richtig. Das Jubiläumskonzert gewährt umfassend Einblick in die Geschichte der Band, sowohl die Besetzung betreffend als auch das Repertoire. Ein sensationelles Zeitzeugnis. Natürlich ist Manuel von Senden mir dabei, schließlich hat er zwölf Jahre den Sound von Electra geprägt. Bernd Gürtler
Electra: "Zwanzig Jahre – Das Jubiläumskonzert" (Sechzehnzehn/Buschfunk; VÖ 11.4.25)
Online hier erhältlich: konsum.buschfunk.com
Wir verlosen 3 Exemplare der CD. EInfach Mail bis zum 15. Juni 2025 senden an redaktion@cybersax.de, Betreff „electra“.