Keine Schwarzweiß-Hörerei

DIE DRESDNER MUSIKFESTSPIELE BLEIBEN AUCH 2023 MUSIKALISCH VIELFARBIG

Jan Vogler, Intendant der Musikkfestspiele

Zwischen Gut und Böse liegt ein unüberbrückbar tiefer Graben. Liebe und Leid, Aufklärung und Dummheit, Frieden und Krieg sind nicht kompatibel, existieren aber zugleich. Nebenoder gegeneinander? Das hängt von den jeweiligen Protagonisten ab. Solang sie vermitteln, einander zuhören und sich wechselseitig akzeptieren können, ist noch nicht alles verloren.

Die Welt der Musik könnte (nein: sollte!) ein Vorbild für den Ton in der Welt sein. Bekanntlich sind wir momentan aber nicht nur meilen-, sondern millennienweit davon entfernt. Im 21. Jahrhundert werden die Fehler und Verbrechen der Vergangenheit wiederholt und mitunter sogar bestialisch übertrumpft. Bis vor kurzem hätte man das noch für undenkbar gehalten. Grund genug für die Dresdner Musikfestspiele, da gegenzusteuern und vermeintliche Gegensätze künstlerisch kommunikativ zu überbrücken. Intendant Jan Vogler soll die Idee zum diesjährigen Motto »Schwarzweiß« bei der Lektüre von Leo Tolstois Roman »Krieg und Frieden« gekommen sein.

Schwarz und weiß sind die Tasten von Klavier, Flügel, Orgel und Akkordeon. So lag es wohl nahe, ins Festival noch ein gesondertes Festival namens »Tastenspiele« zu integrieren. Darin sollen sämtliche
Beethoven-Sinfonien erklingen, ein ganz gewiss faszinierender Zyklus zu jeweils vier Händen. Es wird Klavierrezitals mit Emanuel Ax, Khatia Buniatishwili, Hélène Grimaud, Tiffany Poon und Jean-Yves Thibaudet geben, darüber hinaus jede Menge Klavierkonzerte sowie auch Ausflüge gen Jazz, etwa mit dem großartigen Michael Wollny und seinem Trio im Kulturpalast sowie mit Johanna Summer & Jakob Manz im Zentralwerk. Wer ihn bislang nicht kennt, wird beim finnischen Punk-Akkordeonisten Kimmo Pohjonen in der Reithalle aufhorchen dürfen.

Als Schwarz und Weiß mögen aber auch die schroffen Kontraste zwischen musikalischen Genres und musikaffinen Zielgruppen erscheinen. Denn zwischen Eröffnungs- und Abschlusskonzert - am 18. Mai und am 18. Juni - liegen mit den Münchner Philharmonikern unter Tugan Sokhiev und der Sopranistin Christiane Karg sowie mit dem Jazz at Lincoln Center Orchestra und dem Trompeter Wynton Marsalis musikalische Welten, die ein geradezu kunterbuntes Spektrum abbilden. Es wird eine ganze Reihe weiterer Ausflüge in Richtung Experiment und Wagnis geben, etwa der Brückenschlag des Danish String Quartet von Franz Schubert zur 1977 geborenen Isländerin Anna Thorvalsdottir sowie das Jubiläumskonzert zum 50-jährigen Bestehen des Ensembles The Tallis Scholars im Zentralwerk.

Darüber hinaus – und nicht minder verlockend - soll es aber auch musikalische Rückbesinnung zum vermeintlichen Originalklang geben, dem sich das 2012 gegründete Festspielorchester verpflichtet sieht. Es wird neben Beethovens Missa solemnis unter Jordi Sawall und Schumanns halbszenischer »Genoveva« mit Aapo Häkkinen auch ein Großprojekt starten: die konzertante Aufführung von Wagners »Ring des Nibelungen« in der historisch fundierten Lesart von Kent Nagano. Den Auftakt zum Zyklus setzt »Das Rheingold«, mit dem im Sommer auch in Ravello gastiert werden soll.

Populär und somit ein Anreiz für breiteste Publikumsschichten dürften Veranstaltungen mit Till Brönner, David Garrett und Nils Landgren sein. Quasi als Granden sind Dirigenten wie Herbert Blomstedt und Hartmut Haenchen zu erwarten. Die Geigerin Anne-Sophie Mutter schmückt die Musikfestspiele ebenso wie Schauspiellegenden Klaus-Maria Brandauer und Birgit Minichmayr.

Dass Intendant Jan Vogler auch selbst wieder aktiv wird und unter der Leitung von Omer Meir Wellber das Cellokonzert von Alfred Schnittke aufführen wird, versteht sich von selbst. Allenfalls eine Lesung hätte man sich noch von ihm wünschen können, um zu erfahren, welche Stelle aus »Krieg und Frieden« (Tostoi wollte seinen Roman ursprünglich »Ende gut, alles gut« übertiteln) den Ausschlag zum Motto »Schwarzweiß « gegeben hat.
Michael Ernst

Dresdner Musikfestspiele 18. Mai bis 18. Juni, www.musikfestspiele.com