Klangcluster aus blauem Himmel

Die Dresdner Sinfoniker auf den Dächern von Prohlis

Das, was da am 12. September inmitten der Neubauschluchten von Prohlis passierte, verdient Superlative, für die es womöglich noch keine Wörter gibt. Ein beseelter Applaus glücklicher Gäste auf dem Parkdeck des Prohliszentrums, auf den Straßen drumherum sowie von den Balkonen des Areals zeugte davon: Hier und heute ist etwas ganz Besonderes geschehen.

Am Anfang war eine Idee vor längerer Zeit. Da trafen sich Markus Rindt, Intendant der Dresdner Sinfoniker, und Andreas Nattermann, gerade aus dem Amt geschiedener Chef des Societaetstheaters, in Prohlis, wo die Bühne die Zweigstelle „Zuhause in Prohlis“ betreibt. Da meinte Rindt, unbedingt auf den Dächern des Neubaukiezes etwas machen zu wollen. Immerhin war die 2006 auf der Prager Straße unter großem Jubel mit den Pet Shop Boys aufgeführte „Hochhaussinfonie“ eigentlich für Prohlis geplant, dann aber ins Zentrum verlegt worden. So waren die Sinfoniker den Prohlisern also noch etwas „schuldig“. Aber auf die Dächer hier draußen? Das schien gewagt, doch wider Erwarten sagte die Vonovia „Yes“.

Der erste Schritt zum Wo war getan, nun kam die Frage nach dem Was. Ein Auftragswerk sollte es sein, geschrieben für diesen Anlass: „Himmel über Prohlis“. Für die Komposition wurde schließlich Markus Lehmann-Horn aus München verpflichtet, der sich bisher vielseitig in Sachen zeitgenössischer Musik gezeigt hatte und auch für viele Spielfilm- und Doku-Soundtracks verantwortlich zeichnete. Mehrfach war der 43-Jährige vor Ort, um das Besondere des Ortes einzuatmen, aufzusaugen. Es entstand ein Werk für sechzehn Alphörner, neun Trompeten, vier Tubas und vier chinesische Dà Gǔ-Trommeln. Das allein schon ließ die Erwartungen in die Höhe schießen.

Am 12. des Septembers war es dann soweit. In der Mitte des Geschehens lag das Prohliszentrum, beziehungsweise dessen Parkdeck, auf dem das zahlende Publikum sowie die Gäste, Supporter und Honorationen Sitzplätze hatten. Hier standen auch die Bühne für das Trommelensemble sowie die Toncrew um Omar Samhoun (Neumann & Müller) und Volker Greve (Greve Studio) – um sie herum postiert die Funkstrecken, deren Genauigkeit entscheidend für das Gelingen war. Angesagt ist ein zweigeteilter Vorabend, das Hauptstück natürlich nach der Pause.

Und dann schallte es gar herrlich zum Auftakt. Wenn schon kein Olympia in Tokio, dann doch wenigstens olympischer Sound in Dresden. So erklang, angeführt von sieben Hörnern vor der Pardeckbühne, die „Olympische Fanfare“, die John Williams für die Spiele 1984 in Los Angeles schrieb. Wie eine heitere Variante seiner „Star Wars“-Musik wirkt das kurze Stück erhebend und auf eine angenehme Art kitschig – eine Art wuchtig geblasener Pop. Vom Dach des Zehngeschossers nebenan antworteten Trompeten und Tubas, die Trommeln basieren das Klangerlebnis kraftvoll, übertönen es aber nicht. Hier wird spielend angezeigt: Yes, we can!

Teil zwei von Teil eins zeigt die Wandlungsfähigkeit und die Vielfältigkeit der Dresdner Sinfoniker sowie deren Mut, über den Tellerrand zu schauen. Meist zwar in der Musik des Heute zuhause, geht es nun 400 Jahre zurück in den Spätrenaissance . Hier gab es den zu Lebzeiten berühmten Komponisten Giovanni Gabrieli (1557–1612), zudem einer der bedeutendsten Musiker der Venezianischen Schule. Er galt als Avantgardist, zu dessen Schülern unter anderem Heinrich Schütz gehörte. Drei Gabrieli-Stücke gab es nun in Prohlis: „Canzon duodecimi toni“, „Sonata XX a 22“ und „Canzon septimi toni no. 2“. In der Reihenfolge wirkten sie erhaben, episch und heiter, ein Nachklang aus ferner Zeit, hochmodern anmutend, arrangiert von Wieland Reißmann für 16 Hörner, neun Trompeten und vier Tubas. Sollte man die Augen schließen oder sich verwundernd umherschauen? Eine schwierige Entscheidung.

Vor der Pause bekommen noch die Dà Gǔ-Trommeln ihr Solostück, was auch einen ganz praktischen Zweck hat – die Hornbläser müssen vom Parkdeck auf die Hochhäuser zu ihren Alphörnern gelangen. So kam also „Long Teng Hu Yue“ des chinesischen Komponisten Minxiong Li (1932–2009) zur Aufführung. Der Titel übersetzte Markus Rindt mit „Wohlgesetzter Kampf“ – und für die Richtigkeit der Translation sprach die zunächst wie eine Dampflok anrennende und dann vielhändig virtuos-packende Performance von Lin Chen, Beibei Wang, Yu Xia und Yang-Hung Huang. Danach benötigte man dringend ein paar Minuten zum Luftholen, die Pause kam gerade recht.

Jetzt das Hauptwerk. Markus Rindt führt ein kurzes Gespräch mit Markus Lehmann-Horn. Es geht um die Entstehung von „Himmel über Prohlis“, aber auch um die schwierige technische Umsetzung. Denn die unertschiedlichen Entfernungen der Musiker auf den Hochäusern erfordern verschiedene Einsatzzeiten, koorodiniert durch einen Klick, der das Ensemble zusammenführt. Liegt die Technik hier einen Sekundenbruchteil daneben, kommt es zur Kakofonie. Kam es aber nicht.

In das Läuten der Prohliser Kirchenglocken schallten nun die Alphörner von vier 17-Geschossern, dass es einem die Haare auf der Gänsehaut aufstellte. Schon bald dräut es bedrohlich, schärft die Blechblasabteilung den Sound, dröhnen die großen Trommeln. Ähnlich den Hendrix’schen Bombenjaulern fallen Klangcluster dunkel aus dem blauen Sonnenhimmel über der Stadt. Sound of Drone, geblasen. Ein Hubschrauber kreuzt die Kulissen, "Chemtrails" erscheinen. Was waren schon die Posaunen von Jericho gegen dieses Hörerlebnis? Zumal die einzelnen Dachgruppen nicht in einen Zentralmix geschoben wurden, sondern aus ihren Entfernungen zu hören waren. Open-air-Kunstkopfstereophonie.

Das Trommelensemble hat nun ein Solo, der Übergang zu verkappten Zitaten: „Horst Wessel Lied“, deutsche Hymne und die Neunte. Dies hätte es aber eigentlich nicht gebraucht, zumal – wenn schon – ein paar Noten der DDR-Hymne gefehlt haben, des Ortes und seiner Entsteheung wegen. Das Ende: leichtfüßg, durchsichtig, verhalten optimistisch, aber nicht beliebig. Ein Austieg zum Einstieg in das Kopfkino für danach. Es bleibt: lang anhaltender stürmischer Applaus. Stehend. Verdient für einen fulminanten Dreiklang aus Musik, Technik und Ort.

In ein paar Wochen wird es einen aufwändig gedrehten Film zum Konzert geben. Man darf sich jetzt schon freuen auf die ungeahnten Perspektiven.
Uwe Stuhrberg

Himmel über Prohlis Dresdner Sinfoniker, 12. September, Prohliszentrum
www.dresdner-sinfoniker.de