Liebe in Zeiten des Krieges

Am 10. Mai erinnert ein Projekt über sowjetische Feldpostbriefe an das Ende des Zweiten Weltkrieges vor 80 Jahren

Foto: Evelin Mühle

Seit Beginn des russischen Eroberungsfeldzuges ins ukrainische Nachbarland fühlt sich der 8. Mai als Jahrestag der deutschen Kapitulation 1945 nicht mehr so eindeutig als der »Tag der Befreiung« an wie zuvor. Ein Russland, das in die gleiche Aggressorenrolle wie einst das »Dritte Reich« schlüpft und schon lange einen hybriden Krieg gegen Westeuropa führt, kann man nicht mehr vorbehaltlos als Befreier vom Faschismus feiern. Die Sowjetunion trug zwar objektiv neben den Westalliierten die Hauptlast der Zurückschlagung deutscher Weltherrschaftsgelüste im Zweiten Weltkrieg. 24 Millionen Tote sind dafür nur ein statistischer Beleg. Aber sie errichtete danach auch selbst ein die halbe Welt umfassendes kommunistisch-koloniales Imperium. Dieser Machtanspruch hat mit Beginn der Putin-Ära im Jahr 2000 neuen Auftrieb erhalten.
Wie also mit dem 8. Mai umgehen, der in diesem Jahr durch die 80. Wiederkehr des historischen Datums der Erlösung vom Hitlerfaschismus besonders aufgeladen ist? Eine Frage, die sich im neuen Zarenreich nicht stellt. Dort ist der 9. Mai nach wie vor der »Djen Pobjedui«, der Tag des Sieges, bezeichnenderweise nicht der Tag des Friedens.

Eine einzigartige Möglichkeit mahnender Erinnerung bietet sich am 10. Mai auf dem Sowjetischen Garnisonfriedhof Dresden an der Marienallee. Die Veranstaltung ist die Zweitauflage einer Uraufführung des Dresdner Literaturtheaters gemeinsam mit dem Chor »Slavica« am 22. Juni 2021, also am 80. Jahrestag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion. Im Mittelpunkt stehen Schicksale und menschliche Sehnsüchte sowjetischer Frontsoldaten im Zweiten Weltkrieg.

Gewaltfolgen also, die alle meist wider Willen aus ihrem gewohnten Leben gerissenen Soldaten und Zivilisten überall auf der Welt in ähnlicher Weise betreffen. Das ursprünglich kanadische Antikriegslied »The Universal Soldier« spiegelt es wider. Für Markward Herbert Fischer vom Dresdner Literaturtheater tun dies in besonders ergreifender, weil authentischer Weise, Feldpostbriefe. Die deutschen kenne man, sagt er, die sowjetischen hingegen nicht. Sie wurden zwar in der Sowjetunion und in Russland verlegt, erreichen uns aber kaum. »Diese Briefe sind ein Kulturgut!«

Zum 80. Jahrestag der Umsetzung des Unternehmens »Barbarossa«, als am 22. Juni 1941 die Wehrmacht unter Missachtung des Ribbentrop-Molotov-Paktes in die Sowjetunion einfiel, befasste sich Fischer mit solchen Briefen und schrieb ein Stück. Er schränkt allerdings ein, dass die aufgefundene Korrespondenz auch sehr banal wirken kann, teilweise eben nicht die erwarteten Front- oder gar Heldengeschichten erzählt. Viel Alltägliches, scheinbar Belangloses sei zu lesen. Er schreibt das der sowjetischen Zensur zu, von der Soldaten der Roten Armee natürlich wussten. Briefe mussten sogar nach Vorschrift gefaltet werden. Man durfte also bestenfalls schreiben, »wie die Fritzen eins aufs Maul bekommen haben«, die Gräuel des Frontkampfes aber nicht wahrheitsgetreu schildern. »Man wäre sonst als Kollaborateur gebrandmarkt worden«, sagt Markward Fischer. Das bedeutete Abstellung an die vorderste Frontlinie, die sowjetischen Politoffiziere im Rücken, was die Wahrscheinlichkeit eines Todes durch die Feinde oder auch durch die eigenen Leute enorm erhöhte.

Ein Blick beim Frontabschied und 56 Liebesbriefe

Die schier unglaubliche Geschichte, die Fischer aufgriff, aber handelt von Liebe, von einer papiernen Insel der Träume auf den Feldern des Todes. Als die Verwandten von Ljudmilla Fjodorowna Mjasnikowa kurz vor ihrem Tod 2017 ihre Hütte ausräumten, entdeckten sie 56 Frontbriefe des 1943 gefallenen Soldaten Stepan Dmitrijewitsch Lesjukow. Sie hatte sie sorgsam versteckt, und sie enthielten noch beigelegte Apfelkerne als Symbol für Sehnsucht und blühendes Leben. Stepan, russisch gern Stjopa genannt, schrieb sie an ein Mädchen, das er nur einmal gesehen hatte. Als er eingezogen wurde, entdeckte er sie winkend am Bahnsteig, sie rief ihm ihren Namen zu, und er verliebte sich spontan. In der Todeszone trug er das Bild des damals erst 13-jährigen Mädchens als Symbol der Hoffnung und des Lebens mit sich. Die nur an eine Ljudmila und den Namen der Bahnstation adressierten Briefe kamen an.

Die Geschichte erinnert an das Poem »Warte auf mich« von Konstantin Simonow, das auf der Homepage des Literaturtheaters zu finden ist. Fischer baute aus den erschütternden Briefen einen Text und gewann den Dresdner Chor »Slavica« für ein gemeinsames Melodram am 22. Juni 2021 auf dem Garnisonfriedhof. Sie hatten zuvor noch nicht zusammengearbeitet, aber die Reaktion der Sängerinnen und Sänger auf den Text bewegt ihn bis heute, berichtet er. Gerührt mussten viele von ihnen weinen, spürten die Spuren der eigenen Geschichte. Diese Trauer verband damals hier lebende Russen und Ukrainer noch, die sich meist neben ihrer Arbeit im Chor engagieren. Der erreichte unter seinem Leiter Yewgeni Pankow ein mindestens semiprofessionelles Niveau.

Russische und ukrainische Sänger überwinden die Kriegsfront

Ein Jahr später zerstörte der Kreml diesen Zusammenhalt. »Mit dem verfluchten Krieg hörte der Chor auf zu singen«, zürnt Markward Fischer. Zu Todfeinden geworden, konnten und wollten Russen und Ukrainer nicht mehr zusammen musizieren. Als ein Zeichen der Aussöhnung schlug der Autor dennoch vor, das Stjopa-Projekt im Mai 2022 auf dem sowjetischen Ehrenfriedhof Görlitz-Rauschwalde aufzuführen. Sagten zunächst nur fünf Chormitglieder zu, fuhren letztlich doch 21 zum Konzert. »Stjopa hat es vollbracht, dass seine Briefe, seine Worte den Chor wieder zusammenführen«, freut sich Fischer einesteils, bleibt aber wegen der Aussichtslosigkeit von Friedensbemühungen zornig.

Zum bevorstehenden 80. Jahrestag des Kriegsendes nun soll unter dem Titel »Ich werde Dich immer lieben« auf dem bis 1987 betriebenen sowjetischen Friedhof erneut des sinnlosen Sterbens gedacht werden. Das Datum des Sonnabends 10. Mai 14 Uhr musste gewählt werden, weil viele Chormitglieder am Werktag 8. Mai nicht rechtzeitig von der Arbeit freikommen. Veranstalter ist das Deutsch-Russische Kulturinstitut, dessen Arbeit durch den Krieg schwer behindert worden ist und das von der Stadt Dresden nur noch 10.000 Euro Projektförderung erhält. Ab 16 Uhr wird das Programm in dessen Zwiebelturmvilla auf der Zittauer Straße fortgesetzt.
Michael Bartsch

… und werde Dich immer lieben! Dein Stjopa 10. Mai 2025, 14 Uhr, Garnisonfriedhof Dresden, Marienallee (Eintritt frei)
www.literaturtheater-dresden.de