Ostalgie trifft Westalgie

Vereint im Handicap: Die Dresdner Sinfoniker versuchten sich am 3. Oktober mit einer gar nicht so alternativen Version der Einheitstagesfeiern

Endlich eine lockere Alternative zum bemüht wirkenden offiziellen Einheitsjubel am Beitrittstag – sollte man meinen. Was vorab über das Performance-Konzert der Dresdner Sinfoniker am frühen Abend des 3.Oktober im Kulturpalast bekannt war, schraubte Erwartungen an einen anderen Sound als den der Einheitsübertragung aus Erfurt auf allen ÖR-Kanälen höher. Steht doch Mitbegründer und Inspirator Markus Rindt für spektakuläre Events der Sinfoniker auf der Prager Straße, auf Gorbitzer Plattendächern oder an der US-Mauer gegen mexikanische Flüchtlinge.

Es ließ sich auch ganz gut an bei einem Publikum, das aus fast allen bestand, die sich in Dresden zur bildungsbürgerlichen Elite rechnen wollen und die für den ersten Teil willkürlich in eine Ost- und eine West-Hemisphäre im Saal geteilt wurden. Eine hübsche Idee, diese deutsche Teilung nach der Pause augenfällig wieder aufzuheben – wenn sie funktioniert hätte. Denn zu einer auch nur vorübergehenden Identifikation mit einer der beiden Seiten konnte es mangels wahrnehmbarer Einteilung nicht kommen.

Hätten nicht Franziska Abram, an den Landesbühnen eine fantastische Gilda im „Rigoletto“, und Cornelius Uhle, unter anderem bei der Serkowitzer Volksoper zu genießen, beide Seiten mit populären Hits gewissermaßen gegeneinandergehetzt, es hätte der damalige Ruf „Wir sind ein Volk“ gegolten. Das Potpourri reichte übergreifend von den Luftballons und der Neuen Deutschen Welle „drüben“ zu den sieben Brücken und dem unvermeidlichen Hagen-Farbfilm „hüben“.

Dieser Ein-Volk-Gedanke stellte sich spontan beim wohl besten Beitrag des dreistündigen Abends gleich zu Beginn ein. Eine imponierende Langyagi-Westantenne, die aber auch nur in den Dresdner Hochlagen von Plauen-Coschütz zum gelegentlichen Empfang des Kanals 7 vom Berliner Funkturm genügt hätte, wurde symbolisch eingedreht. Dann sah man in einem originellen Zusammenschnitt Westwerbung für Peter Stuyvesant oder Palmolive für ewig junge Frauen oder Ostwerbung für den Centrum-Warenhausversand oder Rafena-Fernseher aus Radeberg. Und siehe, die Einfalt und die unfreiwillige Komik sind gesamtdeutsche Erscheinungen.

Die Bilder bekamen dann noch einen schärferen Dreh, als es um den Mauerbau und Fluchtberichte, West-Reisewarnungen und Klischees ging. Letztere aufgehoben durch einen aufschlussreichen Vergleich äußerer Erscheinungsbilder, der eben nicht im Westen die ab ovo glücklicheren Menschen zeigte.

Die weitere Inszenierung aber kam an solchen Klischees leider nicht vorbei. Ein Staatsgrenzen-Schild an der Rampe, naja, Dirigat von einem Grenzwachturm aus, im ersten Teil noch akzeptabel. Zackige Meldungen, Wachpersonal und Accessoirs aus dem DDR-Museum schienen indessen verzichtbar. Ebenso die zum tausendsten Mal gehörte und von Thomas Förster vorgetragene legendäre Pressekonferenz Günter Schabowskis am Abend des 9.November 1989, dem Tag der Maueröffnung. Auch Försters hinzugefügten eigenen Gedanken hätten doch eher in die Erfurter Oper am Jubeltag gepasst. „Von nun an musste jeder das Leben wieder in die eigenen Hände nehmen“, schloss er. Dass das nun gerade nicht der Fall ist, erlebt man bei der latenten Sehnsucht nach Entlastung von der eigenen demokratischen Mitverantwortung durch Autoritäten, wie sie seit dem Aufkommen von Pegida und der AfD auf ostdeutschen Straßen zu vernehmen ist.

Zur Hälfte des ersten Teils zog das Orchester ein, eine reine Bläserbesetzung, unterlegt mit drei Kontrabässen und Orgel. Die Uraufführung von Markus Lehmann-Horns „Utopian Melodies“ klang stark nach amerikanisch gefärbter Filmmusik, Programmmusik jedenfalls, kräftige Illustration unschwer zu imaginierender historischer Ereignisse. Paukenschläge, schmetterndes Blech, flammende Rufe der Trompeten, synkopisch drängend. Die Orgel zeigte mit einem 32-Fuß-Subbass, was tief unten in ihr wohnt.
Eine sehr dynamische Komposition zweifellos, und das Projektorchester der Dresdner Sinfoniker konnte zeigen, dass es aus ausgesuchtem Personal besteht. Trotz einer gleichberechtigteren Aufstellung als in einer vollsinfonischen Besetzung übertönte das Blech wie so oft im Kulturpalast die Holzbläser, was Dirigent Jonathan Stockhammer nicht ganz ausgleichen konnte. Schüler des Vitzthum-Gymnasiums gestikulierten chorisch dazu, als Mauer-Symbolik war das kaum zu decodieren.

Die zweite Uraufführung „Landmark“ von Charlotte Bray ähnelte der ersten. Viel Alarmismus und Tonmalerei, ein großer Spannungsbogen, wieder abschwellend bis zum Überraschungsschluss. Phänomenal dann Andreas Boyde als Solist in Strawinskys Klaverkonzert. Im ersten und dritten Satz unaufhörlich perlend, ja durchmarschierend, dafür im zweiten Satz geradezu kontemplativ. Manchen war Boydes Gestus zu effekthascherisch, aber ein solches mit artistischen Höchstschwierigkeiten gespicktes Konzert verträgt das.

Kryptisch blieb eine Tanzperformance von Katja Erfurth und Sophien Hauenherm. War es Absicht oder eine unfallbedingte Notlösung, dass letztere als die offensichtliche Ost-Frau auf Krücken kam und mit diesen tanzte? Bis man sich umarmend das Krückenpaar teilte. Hoffentlich vom Beobachter missverstanden, denn sonst wäre es ein makabrer Fehlgriff. Eher wie eine rührend-empathische Zugabe wirkten dann Tom Quaas und der Dialog zweier Behinderter. Symbolik? Wer sind über körperlich-geistige Behinderungen hinaus jene „Menschen mit Handicap“ im vereinten Deutschland? Einmal mehr kommt der schon 1990 so empfundene Satz in den Sinn: Es gibt Wichtigeres als die Einheit!
Michael Bartsch