Torschusspanik

Stefan Drljaca hält in Lübeck die knappe Führung der SGD fest

Foto: SG Dynamo Dresden

Wie es da ist, „Hoch im Norden“, davon sang Udo Lindenberg schon 1972, und wie man da „auf den Seehund“ kommen kann. Vielerorts gehen dort Schönheit und Tristesse Hand in Hand. Dass fußballerische Schönheitspreise an der Lohmühle nicht zu holen sind, war schon ob der Vergangenheit absehbar, dass sich aber dazu eine zeitweilige offensive Tristesse einstellen würde, nicht so unbedingt. Was aber defintiv vorab feststand: Ralf Hauptmann würde in jedem Fall nicht verlieren – gut verteilt die Söhne. Dass das Bruder-Duell aber nur fünf Minuten dauern würde, war dann doch überraschend.

Die erste Halbzeit: Hinten hui, vorn na ja

Grüner Rauch überzog den Anstoß der Heimelf, dem eine Viertelstunde irgendwie nichts folgte. Allerdings sieht man einen falschen Einwurf wegen „Fuß im Feld“ (Lübeck) dann doch eher selten. Einen seichten, ganz leisen Anflug von Torschuss gibt es nur durch Niklas Hauptmann, der eine Strafraumablage von Stefan Kutschke zwar auf das Tor bringt, aber irgendwie sah das auch in Normalgeschwindigkeit wie Zeitlupe aus. Ach ja, Hauptmann: Er stand dann doch überraschend auf dem Startelfzettel.

Nach den ersten 15 Minuten hat der VaueffBeh nix mehr zu melden. Hinten haben Tobais Kraulich und Jakob Lewald mit Paul Will vor sich den Laden absolut im Griff. Keine Gefahr nirgends. Stefan Drljaca guckt aus Langeweile hinten die Katar-Doku über das WM-Desaster der Nationalmannschaft auf dem Phone und denkt sich: In Liga 3 kann es auch ganz schön sein.

Trotz aller Hoheit auf dem Rasen, dauert es fast eine halbe Stunde bis es hätte wirklich klingeln können: Hauptmann spielt hoch vor den Lübecker Kasten und Kutschke kommt Fußspitze voraus angesegelt, aber seine 194 Zentimeter Körperlänge reichen nicht, um dranzukommen. 197 Zentimeter hätten es sein müssen. Nun wird Dynamo drückend überlegen, das Tor muss jetzt eigentlich fallen, es liegt in der Seeluft. Aber mal ist die Flanke schlecht, dann die Ecke ungenügend oder der Freistoß mangelhaft. Die schwarzgelben Goldfüße zeigen genau dort Schwächen, die doch eigentlich Übungssache sind. Und Konter? Nur in Ansätzen erkennbar: bis zur Mittellinie gut (Balleroberung), ab da bis zum Strafraum keine Stringenz.

Bevor der Kreislauf komplett ind en Ruhemodus wechselt, dann doch noch Offrechung in den Sekunden vor dem Pausenpfiff: Erst bekommt Kutschke aus sehr spitzem Winkel den Ball nicht an Klewin vorbei (oder durch ihn durch), dann donnert Lemmer das Ding an die Latte. Die beste Aktion bis hierhin. Und irgendwie auch fast die einzige.

Die zweite Halbzeit: Stefan Drljaca Fußballgott

Jetzt aber mit Dampf! Markus Anfang hat bestimmt geschimpft in den salzwassergedünsteten Katakomben. „Haut doch mal einen rein“, war es bis zum Holstentor zu hören. Und seinen Mannen wollen jetzt auch liefern. Will mit einem langen Sahnepass in den Lauf von Kutschke, der halblinks frei vorm Tor knappst vorbeischießt. Da ist das Adrenalin noch oben, als 120 Sekunden später der Ball im VfB-Tor liegt. Wieder war Kutschke dran, der diesmal mit dem Kopf zu Stelle ist, aber eben vorher auch im Abseits war. Aber egal, jetzt wird es bestimmt bald, immer nur weiter, weiter.

Und so kommt es, wie es herbeigesehnt wurde: Zimmerschied rast quer zur Sechzehner-Linie und findet am rechten Straraumeck Lemmer. Der geht sofort ein paar Schritte, wackelt zwei aus und schließt um den letzten Gegner herum stramm ab. Am langen Pfosten schlägt es ein, selbst mit der Streckbank hätte Klewin keine Chance gehabt. Einsnull oder nulleins – je nach Betrachtungsweise.

Jetzt gleich das zweite nachlegen. Nachlegen! Klewin kratzt einen Kutschke-Schuss von der Linie, Lewald lässt es krachen und Herrmann schlängelt sich durch die Linien. Den Nordlichtern droht der Untergang, und sie wechseln: Marius Hauptmann kommt als neuer Antreiber, das Bruder-Duell beginnt. Und endet nur fünf Minuten später, weil Niklas mit Schmerzen runter muss. Für ihn kommt Vlachodimos, Schäffler ersetzt Kutschke. Und irgendwie zieht sich Dynamo jetzt selbst den Stecker und Lübeck beginnt mit dem Fußballspielen, als Facklam kurz vor seiner Auswechslung dramatisch im Eisngegeneins an Drljaca scheitert. Breier und Taffertshofer kommen für die letzten reichlich 20 Minuten bei den Grünhemden – und so wie diese Wechsel dort einen Schub geben, verpuffen die unsrigen fast komplett, ganz anders als zuletzt.

Zudem patzt nun auch die Defensive. Als etwa Breier im Strafraum einen Ball halbhoch direkt einnetzen will, steht Kammerknecht irgendwie teilnahmslos daneben, als würde er denken: Der Drille macht das schon. Und wie der das macht! Ohmichen und Berger kommen für Will und Zimmerschied. Aber keine Besserung in Sicht. Im Gegenteil: Wieder kocht Drljaca Breier ab. Nur drei Minuten später verpasst Breier knapp das Tor aus der Drehung. Noch zehn Minuten, da zeigt sich dann doch mal mit Vlachodimos ein Dresdner: Aus 25 Metern zieht er ab, und Klewin hat alle Mühe, den nach Abfälschung unter die Latte segelnden Absenker wegzufausten.

Das Spiel hat nun Dramatik, alles kann passieren, der Spruch vom „ums Gegentor betteln“ kommt in den Sinn. Und da passiert es: Der eingewechselte Farrano Polido spielt eine Maßflanke auf – natürlich – Breier, der sich jetzt mit dem Kopf die Ecke aussuchen kann. Aber nicht mit Stefan „Drille“ Drljaca! Mit einem unfassbaren Reflex pariert er Dresdner Goalie den Kopfball. Teufelskerl! Wahnsinnstyp! Fußballgott! Da gehen einem doch die Worte aus. Dresden bangt, Lübeck verzweifelt. Der Auswärtssieg ist nahe, nein, die schießen heute kein Tor mehr.

Dymamo hat sogar noch einen feinen Konter, Vlachodimos bedient Berger, aber der kann mit der Situation nichts anfangen und würgt sich selbst ab. Als Kammerknecht einen Einwurf direkt und ohne Not zum Gegenspieler wirft, wird die Verunsicherung greifbar. Die Bälle werden nur noch hinten herausgeschlagen. Bünning soll in der Nachspielzeit helfen. Und dann klatscht in der vierten Minute der Overtime das Leder tatsächlich noch an den Dresdner Querbalken. Herzattacke! Den hätte auch Drljaca nie und nimmer haben können. Dann ist es vorbei. Fußballgott sei Dank.

Was noch zu sagen wär

Wenn der Fußball-Allgemeinplatz „Wer solche Spiele gewinnt …“ stimmt, dann roch es an diesem Nachmittag sehr danach. Wenn zudem zwei Mannschaften aufeinandertreffen, die Probleme mit dem Torschießen haben, dann ist das knappste aller Ergebnisse wohl logisch. Keine Ahnung, wie die Mannschaft diesen Effizienz-Mangel beheben will, sie muss aber einfach. Denn die ganze Saison über wird einem das Glück der nicht hold sein. Und auch ein Torwart hat nicht jedes Wochenende einen Sahnetag. Gegen den Tabellenverfolger aus dem Schacht muss es einfach schon am Sonntag besser werden.
Uwe Stuhrberg

VfB Lübeck vs. SG Dynamo Dresden
16. September 2023, Anstoß 14 Uhr
Tor: 0:1 Lemmer (51)
Dynamo Dresden: Drljaca, Kammerknecht, Kraulich, Lewald, Meier, Will (75. Berger), Hermann, Zimmerschied (75. Oehmichen), Hauptmann (63. Vlachodimos), Kutschke (63. Schäffler), Lemmer (89. Bünning)
Ohne Einsatz: Broll, Menzel, Borkowski, Meißner
Schiedsrichter: Frank WIllenborg
Fans: 8.858
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