Ein Kriegsunternehmer als tragische Bühnenfigur

Frank Castorf transformiert Schillers »Wallenstein« im Staatsschauspiel

Wird Wallenstein als ein skrupelloser Warlord gesehen oder als ein Friedensfürst, der mit dem Feind verhandelt? Kann eine aktuelle Schiller-Inszenierung vor der grauenhaften Kulisse des Dreißigjährigen Krieges an der Barbarei des Krieges gegen die Ukraine vorbeigehen? Wird man Schillers stringentes »Dramatisches Gedicht« noch wiedererkennen, wenn sich der jetzt schon überlebensgroße Assoziator und Kontexter Frank Castorf darüber hermacht? Nach reichlich fünf Stunden am Gründonnerstagabend im Schauspielhaus werden wir es wissen.

Der große Castorf redet zuvor nicht mit jedem darüber, wohl aber mit seinem Dramaturgen und Staatsschauspiel-Chefdramaturgen Jörg Bochow, und der wiederum mit einem neugierigen Theaterfreund. Zuerst über gemeinsame Erinnerungen an die letzte Dresdner Inszenierung von Hasko Weber 1999 mit einem würdevollen, geradezu in majestätischem Habitus auftretenden Dieter Mann in der Hauptrolle. Ihn wird man leider auf keiner irdischen Bühne mehr erleben, im Februar dieses Jahres verstarb er. Jörg Bochow war als wissenschaftlicher Mitarbeiter damals bei den Theaterwissenschaften der Berliner Humboldt-Uni tätig und beriet die Dresdner. Über Schillers Schriften zur ästhetischen Erziehung des Menschen oder zum Dreißigjährigen Krieg trug er etwas bei.

Eine nur scheinbar einfache Frage in Erinnerung an diese Inszenierung ist jedenfalls geklärt. 1999 lief der lange dreiteilige Wallenstein nämlich auf zwei Abende verteilt. Ein umstrittenes Konzept, das schon seit Goethes Uraufführungszeiten 1798 am Weimarer Hoftheater diskutiert wird. »Schiller bekam den großen Stoff nie in seine Tragödienökonomie hinein«, konstatiert der Kenner Jörg Bochow. Eine Verteilung auf zwei Abende hält er wegen der wie ein Abschluss wirkenden Unterbrechung nach den »Piccolomini« aber für riskant.

Also werden die Dresdner und Gäste nach dem Gründonnerstag nicht nochmals an den Postplatz pilgern müssen, um auch »Wallensteins Tod« zum Finale beizuwohnen. Sie werden aber auch keine Luftmatratze mitbringen müssen wie 2007 zu Peter Steins ungekürztem Zehn-Stunden-Marathon in einer ehemaligen Berliner Brauerei. Das Wachen und Beten in der nach der biblischen Überlieferung letzten Nacht Jesu soll noch vor dem um Mitternacht beginnenden Karfreitag beendet sein.

Was in diesen fünf bis sechs Stunden verhandelt wird, dürfte auch dem durchschnittlich Gebildeten zumindest grob bekannt sein. Es geht um das Schicksal des relativ selbständigen böhmischen Feldherrn Wallenstein, Anführer ihm treu und begeistert folgender eigener Truppen. Er ist der wohl bekannteste Befehlshaber der kaiserlichen, also katholischen Armee im Dreißigjährigen Krieg, lehnt sich aber gegen Kaiser Ferdinand II. auf. Er führt sogar Geheimverhandlungen mit den verfeindeten Schweden. Dieser Konflikt führt 1634 schließlich zur Ermordung Wallensteins, nachdem sich sein ursprünglicher Vertrauter Max Piccolomini als weiterhin kaisertreu erweist. Dieses Zerwürfnis entwickelt sich im zweiten und dritten Teil der Tragödie, während im ersten – »Wallensteins Lager« – ein Stimmungsbild bei Soldaten und Bevölkerung in dem zu dieser Zeit schon 15 Jahre anhaltenden verheerenden Krieg gezeichnet wird.

Erstaunlich genug, dass dieses Groß- und Standardwerk Schillers in der schier unendlichen Liste der Inszenierungen des immerhin schon siebzigjährigen Frank Castorf noch nicht auftaucht. Schon gar nicht aus Dresden, wo er so unauffällig wie das eben bei einem Castorf möglich ist schon bei Arbeiten seines Schülers Sebastian Hartmann in den Zuschauerreihen gesehen wurde. Der gebürtige Ostberliner stand nach zahlreichen anderen Stationen zuletzt fast synonym für die Berliner Volksbühne, der er 25 Jahren bis 2017 als Intendant vorstand.

Bei Gelegenheit solcher Inkognito-Besuche in Dresden habe man bereits seit Jahren über ein gemeinsames Projekt gesprochen, erzählt Jörg Bochow. Beide kennen sich gut, kommen auch gut miteinander aus, versichert der Chefdramaturg auf die ketzerische Frage, was ein Dramaturg eigentlich noch neben oder gegen den großen Regisseur ausrichte. Castorfs Arbeitsweise sei sogar angenehm, wenn man nur wach und gut vorbereitet und offen für überraschende Perspektiven in den Dialog mit dem »hervorragenden Leser und Analytiker« trete. Denn Figuren entstünden besonders bei ihm erst im szenischen Moment. Dabei setze er wirklich auf einen Austausch mit dem Ensemble und dem Team.

Mit dem »absolut eigenständigen Denker und Künstler« wurde also beratschlagt, was er in Dresden inszenieren könne und vor allem wann. Von einem bevorstehenden Krieg in Europa konnte man damals höchstens eine Ahnung haben. Eine kleine Brücke boten Schillers »Räuber« beim Amtsantritt an der Volksbühne 1992. Der »Wallenstein« traf sich mit Castorfs besonderem Interesse an der deutschen Geschichte. Schillers gebundene Sprache bedeutet eine besondere Herausforderung.

Aus dem Ruf, der Frank Castorf im Umgang mit solchen Stoffen vorausgeht, folgen Standardfragen: Wird wieder ein Großwerk zertrümmert, auf postdramatische Statements reduziert? Wenn, dann eher fragmentarisiert, wendet Jörg Bochow ein. Von »genauer Textarbeit« spricht er und davon, dass bei aller Kontextualisierung sehr viel Original-Schiller bleibe. Nicht stehenbleiben werde man beim Dreißigjährigen Krieg, aber auch nicht eins zu eins den in der Ukraine hineinmontieren. Das sei nicht Sache des Theaters. Vielmehr würden die Schrecknisse assoziativ über die Historie vermittelt. Was das Putin-Regime heute mit Mariupol und zuvor mit Grosny oder Aleppo tat, ging schon als »Magdeburgisieren« oder »Magdeburger Hochzeit« 1631 in die Geschichte ein, nämlich die totale Verwüstung der protestantischen Stadt durch die kaiserlichen Generäle Tilly und Pappenheim.

»Wallensteins Charakterbild schwankt in der Geschichte«, sagt der Chefdramaturg und verrät, dass die Inszenierung das auch widerspiegele. Was war Friedenswille, was war egomanisches Machtstreben? Auf jeden Fall werde ein ökonomischer Faktor eine Rolle spielen, den Schiller gar nicht herausarbeitet. »Wallenstein war einer der ersten großen Kriegsunternehmer!« Er habe Armeen finanziert und ausgerüstet. Gezeigt werde er natürlich wie im Original als eine tragische Figur, der anfangs viele Möglichkeiten offenstehen, die sich aber immer mehr in Zwangssituationen bringt und einsam dem Verhängnis entgegengeht. Bei aller Figurenschichtung Castorfs dürfen wir Götz Schubert in dieser Hauptrolle erwarten.
Erwarten dürfen wir auch viel Reflexion, die der Aktion gegenübersteht, kammerspielartige Momente, Monologe. Ja sogar Humor, versichert Jörg Bochow. Bleibt zu hoffen, dass das erneut grassierende winzige Kügelchen mit den süßen Seeminenzündern auch Humor zeigt und das Ensemble von Quarantäneausfällen verschont.
Michael Bartsch

Wallenstein
von Friedrich Schiller, Regie: Frank Castorf, Premiere am 14. April im Schauspielhaus.
Weitere Vorstellungen: 23. April
www.staatsschauspiel-dresden.de