Kästner grüßt mit Abstand

„Das doppelte Lottchen“ open air am theater junge generation

Endlich wieder Theater!, hieß es schon im Juni. Zum Glück ist Sommer, zum Glück müssen Freilichtbühnen nicht erst erfunden werden, zum Glück freuen sich sowohl die Theaterleute als auch das Publikum so darauf, endlich wieder beieinander zu sein, dass Abstand überall zwar vorbildlichst eingehalten, aber zur kleinen Nebensache wird. Vielmehr störte der Regen die Premiere des „Doppelten Lottchens“ auf der Freilichtbühne des Theaters Junge Generation im Kraftwerk Mitte. Denn auf der Bühne erinnert alles an Sommer, Sonne, Eis und See. Schließlich geht es in dieser heiter-melancholischen Verwechslungsgeschichte um Ferienlager. Bühnen- und Kostümbildnerin Nora Lau hat dafür eine luftig-weiße Sommerarchitektur geschaffen, rechts ein Eiskiosk, links ein Häuschen für die Ferienlagerleitung, aus dem eine Rutsche mitten ins Bühnengeschehen führt: mal zum Speisesaal, mal zum Schlafsaal und gleich zu Beginn zum besten Blick auf die „Neuen“, die im Ferienlager ankommen. Und dann steht Luise Palfy aus Wien plötzlich Lotte Körner aus München gegenüber, sie gleichen sich, als würden sie in den Spiegel schauen, als wären sie Walter Triers Illustrationen aus Erich Kästners berühmten Kinderbuch entstiegen. Aus Luises tiefer Abneigung zu ihrer Doppelgängerin wird schnell Freundschaft, die Mädchen begreifen, dass sie Zwillinge sind, sie beschließen, die Namen zu tauschen, die Rollen zu wechseln und den jeweils anderen Elternteil kennenzulernen.

Regisseurin Jule Kracht und Hausdramaturg Christoph Macha haben konsequent darauf verzichtet, das 71 Jahre alte Buch ins Heute zu ziehen. Sie tauchen mit Kostümen, Inszenierungs- und Musikstil tief ein in die fünfziger Jahre. Die Gesangs- und Tanzeinlagen erinnern deutlich mehr an das „Weiße Rößl“ als an „Bibi und Tina“. Und es hätte zumindest an Poesie verloren, wenn Luise und Lotte, statt sich postlagernd, Kennwort Vergissmeinnicht, zu schreiben, per Messengerdienst in Kontakt geblieben wären. Mit viel Liebe zum Detail hat sich das Regieteam den Nebenrollen zugewandt. Im Ferienlagerteil besonders hübsch gelungen: Neben Luise (Lola Mercedes Wittstamm) und Lotte (Marie Thérèse Albrecht) schlüpfen nur männliche Darsteller in die Rollen der anderen Ferienmädchen. In knallbunten Kleidern hüpfen sie über die Bühne und philosophieren mit der Weisheit von Elfjährigen. Dann sind die Ferien vorbei, über dem Eiskiosk weht nun die Wetterfahne „Wien“, aus dem Haus der Ferienlagerleitung wird die Münchner Metzgerei Huber und die Körnersche Küche. Man schaut der vorlauten Luise und der doch sehr braven Lotte interessiert dabei zu, wie sie versuchen, in der Welt der jeweils anderen zurecht zu kommen, wie sie Mutter Körner und Vater Palfy neu kennenlernen.

Tempo und Pfiff bringen die vielen Nebenrollen: Kilian Bierwirth, Julian Lehr, Paul Oldenburg und Alexander Sehan können als Lehrer, Vater, Metzger, Klassenkameradin oder Hund viele spielerische Facetten aufblitzen lassen. Freilufttheater, noch dazu, wenn es durch Kapuzen hindurch und an S-Bahngeräuschen vorbei dringen will, ist nicht gerade der Ort für die leisen Zwischentöne. Umso erstaunlicher, dass die ausgerechnet bei einer Person zu Augen und Ohren kommen, die Erich Kästner eher eindimensional angelegt hat: Irene Gerlach will Ludwig Palfy heiraten. Im Buch ist sie die Mensch gewordene Hexe aus Hänsel und Gretel. Julian Lehr spielt sie auch als eine Liebende, als eine Verletzte.

Die Inszenierung erlaubt ein etwas anderes, dann doch deutlich zeitgemäßeres Happy End für alle: Luise und Lotte können zusammenbleiben, aber beide Eltern bleiben beruflich selbstständig und unabhängig voneinander – die Mutter findet eine Stelle in Wien, der Vater kann weiter komponieren - und Irene muss auf ihren Ludwig nicht verzichten. Das ist die einzige Überraschung der knapp zweistündigen Aufführung, die nicht mehr, aber auch nicht weniger als der Kästner-Klassiker bietet. Bei sommerlichem Wetter nun auch im tjg-Spielplan der neuen Saison.
Katja Solbrig

Das doppelte Lottchen von Erich Kästner, Regie: Jule Kracht, tjg. Freilichtbühne, Kraftwerk Mitte. Nächste Vorstellungen: 3. bis 5. September
www.tjg-dresden.de