Letzte Schafe, künftige Gänse

Kein Theater, nirgends. Eine Stimme aus dem leeren Zuschauerraum des TJG

Also diese beiden Schafe – einfach hinreißend! Wie sie sich vor Neugier verzehren und gleichzeitig Angst haben, das Gewohnte zu verlassen. Wie sie jetzt klarkommen sollen ohne Hirten und ob das neue Baby vielleicht eine ganz wichtige Botschaft zu verkündigen hat? »Das letzte Schaf« im Theater Junge Generation hat das Zeug, das ewig gute »Christmas Carol« im Palais im Großen Garten als Vorweihnachts-Must-Have abzulösen. Das Kind fürchtet sich mit den Schafen vor dem Wolf und freut sich mit ihnen pur am Weihnachtswunder – und die Erwachsenen fragen sich, ob sie nach diesem Stück eigentlich noch eine Weihnachtspredigt brauchen.

Doch Texte im Advent des Jahres 2020 sind häufig keine Must-Have-Texte, sondern Would-have-been-so-nice-Lamentationen. Nix mit dem »Letzten Schaf«, kein Theater, nirgends – außer natürlich die häuslichen Dramen, bei denen man ja aber bedauerlicherweise nicht beobachtend im Publikum sitzt, sondern so unmittelbar beteiligt ist. Wie täte da eine Abwechslung gut, so ein Nachmittag, auf den man sich schon lange freut, die kribbelnde Aufregung, ob es auch allen gefällt, die man so mitgeschleppt hat, Groß und Klein … Der Ausflug bis ins Kraftwerk Mitte, noch hat sich niemand sattgesehen am Industriecharme des Gebäudes, noch stellt sich jedes Mal die Freude ein, nicht irgendwie bis nach Cotta gurken zu müssen, sondern schön zentral in die Stadt fahren zu können. Aber ach …

Natürlich hat man sich in früheren Jahren auch schon glücklich geschätzt, wenn man rechtzeitig Karten für all seine Lieben ergattert hatte, jahreszeitenunabhängig übrigens im TJG, mindestens im Dezember auch für alle anderen Weihnachtsstücke. Aber nun, kein Theater, nirgends! Weil das Kind gerade in diesem perfekten Puppentheateralter ist, eine Lebensphase, die ja nur wenige kostbare Jahre dauert, vermisse ich das TJG besonders. Im letzten Dezember gab es »Däumelinchen« (okay, mit der Kita), die »Bremer Stadtmusikanten« und das »Letzte Schaf«. Und einen Ausflug zum Schwanenseemärchen in die Landesbühnen. Andere Kinder vermissten im ersten Lockdown das Kino oder dank Disney Channel vielleicht auch nicht; mein Kind fragte, wann wir endlich mal wieder ins Theater gehen. Haben wir im Sommer probiert, aufzuholen. Aber reicht ja nun mal nicht für ein ganzes Jahr, schon gar nicht für diesen Winter.
Der Groupie, als der ich mich hiermit endgültig oute, checkt natürlich trotzdem immer mal die Website des Lieblingstheaters, und um sich besonders zu quälen, kann er die Trailer gucken. »So hab ich mir die Feiertage nicht vorgestellt!«, seufzt das letzte Schaf aus tiefsten Herzen auch im Videoclip.

Die Theater, und damit auch das TJG, sind bis zum 28. Februar zu. Die Erfahrung der jüngsten Monate lehrt: mindestens bis zum 28. Februar, vielleicht dauert’s doch noch länger. Und die Erfahrung der letzten Monate lehrt leider außerdem: Viele Inszenierungen werden nur ganz wenige Vorstellungen erfahren, nicht wieder aufgenommen oder gar gestrichen werden. Für »Das letzte Schaf« kann man nur hoffen, dass auch im kommenden Jahr im Weihnachtsangebot des TJG noch Platz dafür ist.

Aber wird meine Lieblingskatze die Pandemieauswirkungen überleben? Die Katze aus den »Bremer Stadtmusikanten« hat sich tief in mein Herz hineingespielt. Dabei ist sie noch nicht mal so richtig sympathisch. Eine alternde Diva. Aber eben auch: umwerfend. In Gesang, Gestik, Mimik. Jawohl, Gestik und Mimik sind auch im Puppentheater möglich, jedenfalls wenn es gut gemacht ist. Die Katze ist der lebende Beweis dafür, dass das Puppentheater eine großartige Kunstform ist, dass der Puppenspieler hinter der Puppe verschwindet, obwohl er doch ganz sichtbar auf der Bühne steht, dass geniale Verfremdungseffekte möglich sind, die die Zuschauer im besten Falle gar nicht bewusst wahrnehmen, sondern sich im Nachhinein nur fragen, wie es sein kann, dass dieses »Theater für Kinder« auch bei Erwachsenen so wunderbar funktioniert. Nicht auszudenken, wenn das TJG den »Schatz im Silbersee« mal wieder auf den Spielplan bringen würde, mit diesem super Pferd … – doch diese vergebliche Hoffnung muss man gar nicht nähren, wo doch ganz andere Tiere auf die Bühne drängen.

Gustje hat nämlich das offizielle Licht der Theaterwelt noch gar nicht erblickt, dabei war sie fest eingeplant. Beim TJG und auch bei mir. Was hätte Hausregisseur Nils Zapfe aus der »Weihnachtsgans Auguste« gemacht, ebenfalls ein Weihnachtsklassiker, der aber, liest man ihn heute oder hört ihn auf der Schallplatte, doch sehr aus der Zeit gefallen scheint … In Friedrich Wolfs Erzählung kaufte der recht klamme Opernsänger Löwenhaupt eine lebende Gans in Vorfreude auf den Braten zum Fest, riss damit ein Loch in die Haushaltskasse und entschuldigte sich vor sich und den anderen mit: »Aber etwas muss man doch fürs Herze tun!« In der TJG-Fassung hatte Vater Löwenhaupt sein Geld mit Straßenmusik verdienen sollen und gar kein Geld mehr für die Gans ausgegeben. War diese Lesart bereits eine Vorahnung der Einnahmesituation von soloselbstständigen Künstler*innen gewesen? Werden wir es je erfahren? Wird Gustje es 2021 auf die Bühne des TJG und bis in unsere Herzen schaffen? Ist eine konsequente Reaktion auf die theaterlose Zeit vielleicht: der Familie ein Haustier zuzulegen und es Gustje zu nennen? Und sollte dieser Coronaspuk irgendwann mal vorbei sein und man weiß nicht mehr, wohin mit all den Gustjes – dann könnte vielleicht hinterm TJG im Kraftwerk Mitte ein Streichelzoo angelegt werden für all die Ersatzgänse, -katzen und -schafe.
Katja Solbrig