Mehr Zirkus gibt es höchstens im Stadtrat

Der vierte Jahrgang des Zirkustheaterfestivals mit einem grandiosen Auftakt

Wenn Tucholsky das Theater ein Hustenhaus nannte, so muss das Zirkuszelt als ein Schwitzhaus gelten. Zum Auftakt des vom Societätstheater ausgerichteten Zirkustheaterfestivals wedelte sich das Publikum im Zelt am Alaunpark artistisch Luft mit allem zu, was als Fächerersatz dienen konnte. Zuweilen erfrischte sogar ein Stoß kühler Luft von gottweißwoher den perlenden Rücken. Denn dieser Freitag der dreizehnte war ein verdammt heißer Tag, aber das nur im besten Sinn für das mittlerweile fest in Dresden etablierte Festival.

Nun erscheint es wenig sinnvoll, der Stammgemeinde noch einmal vorzuschwärmen, wie gelungen der spezielle Auftakt 2025 lief. Die Besucherzahl war im vorigen Jahr schon auf 17 000 angewachsen – bei einem Festivaletat von lediglich 180 000 Euro. Denn das bislang einzigartige Experiment einer Zusammenarbeit mit den Dresdner Musikfestspielen blieb leider auf deren Abschlusstage beschränkt, also eine Wochenendfliege. Die vier Vorstellungen waren ohnehin lange schon bis auf den letzten Stehplatz ausverkauft. Sie boten aber zugleich ein Exposé, eine Programmvorschau auf die zwei Wochen bis zum 28. Juni und führten so über das musikalisch-artistische Auftaktspektakel hinaus.

Socie-Leiter und Geschäftsführer Heiki Ikkola erzählt, dass die Musikfestspiele zwecks eines Kooperationsprojektes auf ihn zukamen. Das klingt doch schon mal nach einer Auszeichnung für das erst in den vierten Jahrgang startende Zirkusfestival! So recht hätte das Team um Intendant Jan Vogler aber nicht gewusst, was man gemeinsam veranstalten könne. Da habe es für ihn nahegelegen, das bislang schon praktizierte Format eines „Blind Date“ ins Spiel zu bringen, also spontane, genreübergreifende künstlerisch-akrobatische Interaktion.

Das passte, denn die Musikfestspiele konnten ihrerseits auf hochtalentierte junge Nachwuchsmusiker mit größtenteils Dresdner Biografien zurückgreifen. Die deutsch-griechische Pianistin Danae Dörken hatte 2016 und 2018 schon beim ähnlich variablen Bohème-Projekt mitgewirkt. Cellistin Anna Herrmann war Meisterschülerin bei Jan Vogler. Was herauskam, passt erst recht. Volles Risiko zu gehen kann sich auszahlen. Keine Probe, das erste Aufeinandertreffen Freitag 17 Uhr glich tatsächlich einem Blind Date. Mit dem Griff in zwei Eimerchen losten Kinder erst aus, welcher Artist auf welchen Musiker trifft.

Das funktioniert nur, wenn souveräne Instrumentalisten zugleich eine für ihre Jugend erstaunliche Improvisationsgabe mitbringen. Bewegung der Körperkünstler, ob am Boden oder am Trapez, sollte mit Klängen korrespondieren. Wenn es besonders gut lief, wuchsen die Solistinnen und Solisten über das Beobachten und klangliche Illustrieren sogar hinaus, erschufen einen eigenen, aber verwandten Kosmos. Man muss das Duo Aliada mit Sax und Akkordeon erwähnen, den sicheren, einfallsreichen und bereits mit der Staatskapelle „liierten“ Kontrabassisten Leopold Rucker. Übertroffen vielleicht nur noch von Jakob Manz mit dem Altsax, der unaufhörlich neue Motive, Kaskaden und perlende Läufe kreierte. Ein Volltreffer, ein Format, von dem sich beide Festivals nicht mehr trennen sollten.

En passant stellten sich bei diesem Date zum Auftakt zugleich einige Akteure der kommenden beiden Wochen vor, meist ebenfalls solistisch. Zunächst aber konnte sich das begeisterungsfähige Publikum in einer kurzen Lehrveranstaltung über Anfänge und Intentionen dieses Dresdner Zirkustheaterfestivals weiterbilden. Heiki Ikkola, bekennender Zirkusfreund, ließ sich von einer Bewegung inspirieren, die als „Cirque Nouveau“ in den 1970-ern aus Frankreich kam. Valentin Steinemann vom Schweizer Zirkus „FahrAway“ beschreibt diese wiederum aus dem Straßentheater entstandene alternative Zirkusform eher als Gesamtkunstwerk denn als Nummernprogramm, dramaturgisch durchgestaltet. Theater, Zirkus und Musik mischen sich, auf klassische Attribute wie wilde Tiere wird verzichtet. Es agieren freie Gruppen und keine Familienunternehmen.

„FahrAway“ ist von Beginn an der wichtigste Festivalpartner. Die Schweizer fahren nicht nur das Zelt über den halben Kontinent heran, sie tragen auch wesentliche Programmteile wie eben das Blind Date zu Beginn. Sie spielen nicht nur im Zelt Alaunpark ihr beliebtes Familienstück „Wo ist Tobi“ in der zweiten Festivalwoche. Auf dem gepflasterten Platz davor und am Goldenen Reiter kommt „Elefant“ – aber ohne Elefanten und übrigens nur für eine dankbare Spende in den Hut.

Schon zum Auftakt bestach mit dem US-Amerikaner Wes Peden einer der weltbesten Jongleure durch seinen ebenso poetischen wie atemberaubenden Umgang mit drei Bällen. Was er zauberte, war in Echtzeit und mit bloßen Augen kaum nachvollziehbar. Ähnlich sensibel tanzte das deutsche Duo Overhead Project, das im heimischen Gutmann-Saal des Societätstheaters zu sehen sein wird. Für den Spielort Dresdner Heide an der Prießnitz sei noch „Klub Girko“ erwähnt, die zum Auftakt mit Bambusstäben und großen Lochsteinen balancierten.

Der Abschlussabend am 28. Juni wird Heiki Ikkola gehören, der nach fünf Jahren Socie wieder in die Freie Szene zu seiner Gruppe „Freaks und Fremde“ zurückkehren wird. Kafka´s Hungerkünstler ist angesagt, keine Anspielung auf die prekären Einkünfte freier Schauspieler. Danach wird mit einiger Wehmut gefeiert.

Nach seinem liebsten Kind, dem Höhepunkt der vergangenen Spielzeiten befragt, bezeichnet er die Anfangsumstände und vor allem die Resonanz auf das Zirkusfestival als „Glücksfall“. Um dann den Dresdnern ein Kompliment zu machen, mit dem er sich wirklich nicht mehr einschmeicheln muss. „Ich habe in Dresden gelernt, dass man oft Hindernisse überwinden muss. Aber wenn man hier in das Herz hineingekommen ist, dann tragen die Sachen unfassbar lange“, lobt er die Treue des Publikums. Sein Nachfolger Stephan Hoffmann will „auf jeden Fall mit einem fünften Festival 2026 fortsetzen“.
Michael Bartsch

4. Zirkustheater-Festival 13. bis 28. Juni,
www.zirkustheater-festival.de
Tickets: www.saxticket.de