Sieben Stunden Castorf – Was bleibt?
„Dantons Tod“ von Georg Büchner unter Verwendung von "Der Auftrag" von Heiner Müller am Staatsschauspiel Dresden
Als ich endlich zuhause ankam, war es 2.15 Uhr. Nach sechsdreiviertel Stunden Theater, in denen ich mit Bildern, Texten und Musik regelrecht abgefüllt worden war, wollte ich nur noch ins Bett. Andere waren schon in der Pause (nach dreieinhalb Stunden!) gegangen, wieder andere fühlten sich offenbar gut unterhalten. Ich möchte meine Reflexionen über diesen in vielerlei Hinsicht voluminösen Theaterabend in der Regie von Frank Castorf mal von hinten beginnen – mit dem, was bleibt.
Ich habe Unmengen von Text gehört, denn Frank Castorf und sein Dramaturg Jörg Bochow haben das an sich schon wortreiche Stück des 22- jährigen Büchner von 1835 über die Französische Revolution und das Rollen ihrer Anführerköpfe mit Heiner Müllers „Der Auftrag“ von 1979 verschnitten – beides große Stücke von unglaublich dichter literarischer und intellektueller Qualität und Sprengkraft. Beide zusammen zu denken ist ohne Frage sinnvoll, behandelt letzteres doch den Versuch dreier Abgesandter der Revolution, diese nach Jamaika zu importieren und dort einen Sklavenaufstand zu organisieren. Unterwegs geht allerdings ihr Auftrag verloren, weil sich im heimatlichen Frankreich die politischen Verhältnisse geändert haben: Napoleon ist mittels Staatsstreich vom November 1799 an der Macht.
Wenn man, wie Castorf im Programmhaft zitiert wird, „die Ideen der Revolution nicht mehr zurücknehmen kann“, so sind ihre Errungenschaften, ihre Ethik, ihre Fragen doch bis heute aktuell – wir erinnern uns: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Ob ein Diskurs darüber heute noch notwendig ist, darüber kann man geteilter Meinung sein. Das Theater aber ist uns (noch?) erhalten geblieben als ein Ort öffentlicher Debatte, als ein „Laboratorium sozialer Fantasie“, wie Heiner Müllers Theaterverständnis erinnert werden darf. Aber genau dazu fühlte ich mich nicht eingeladen. Ich sah ein großartig aufspielendes Ensemble von lauter Einzelwesen, die sich die Seele aus dem Leib spielten und vor allem schrien – jedes Wort ein Kampf um Leben und Tod, jeder Monolog eine Show mit und für sich selbst.
Doch es dauerte lange, bis weit nach der Pause, bis die beiden Kontrahenten Danton und Robespierre sich gegenübersaßen und ihre unterschiedlichen Positionen zum Fortgang des revolutionären Terrors gegeneinander vermaßen. Da hatte ich die Worte allerdings schon einmal gehört – in anderen Szenen von anderen Figuren gesprochen. Das ist nicht neu bei Castorf, dass das Textmaterial immer allen zur Verfügung steht. Manchmal ergeben sich daraus erhellende Überlagerungen, meist aber wird das Gesamtkunstwerk dadurch nur aufgebläht mit der Attitüde ganz großer Bedeutung, oder auch mit der Tendenz zur Beliebigkeit.
Das tat mir besonders bei den Büchner - Texten weh, bei denen durch die Unschärfe von Figuren und Situationen die Sache, um die es ging, zugunsten extrovertierter Innenschauen verloren ging. Die Szenen beispielsweise im Nationalkonvent oder vor dem Revolutionstribunal sind bei Büchner öffentliche Debatten. Hier werden sie zu Saufgelagen mit den üblichen unappetitlichen Sauereien. Die Requisite hat auch immer gut zu tun bei Castorf. Statt eines Angebots zum Denken wird die gesamte Theatermaschinerie aufgefahren von gingantischen Bühnenaufbauten, einem ausgefeilten Lichtkonzept, brillanten Kostümen in Hülle und Fülle bis hin zur Musik, einer Mischung aller nur denkbaren Stile – Hauptsache raumgreifend, oft auch pathetisch und mit Bässen, die wohl ins Unterbewußtsein dringen sollten. Ich halte mir an solchen Stellen lieber die Ohren zu, weniger eine Verweigerung gegenüber emotionaler Manipulation als vielmehr der Lautstärke.
Das kann er gut, der Frank, wie er liebevoll von seinen Schauspielerinnen in den sich diesmal angenehm dezent haltenden Extempores genannt wird, das ganz große Theaterbesteck virtuos bedienen. Ein gigantischer Bühnenturm in der Mitte beherbergt sowohl das berühmte Pariser Caféhaus „Procope“, wo sich damals wie heute Dichter, Denker und Poliker trafen, und daneben einen kleinen Laden, der sich später als hochmodernes Waffengeschäft entpuppt. Irgendwann fährt der Turm äußerst dramatisch nach unten, ebenso wie der mit einem beeindruckenden Gemälde versehene Rundhorizont. Im ersten Stock des Bühnenturms befindet sich eine Art Gefängniszelle. Auch die fährt mitsamt den Schauspielerinnen ein paar Stockwerke tiefer. Das Theater findet im Folgenden und über sehr lange Zeit in der Unterbühne statt. Wir dürfen daran teilhaben, in dem wir auf eine nicht allzu große Leinwand starren, die frei im nun leeren Bühnenraum hängt, und das weitere Geschehen inklusive einer ewig langen Duscharie zweidimensional präsentiert. Hier kämpfen nackte oder halbnackte Schauspielerinnen mit ihrem Text gegen das Wasser, die Kälte, die Musik und wahrscheinlich auch gegen die fortschreitende Zeit an.
Das Bühnengeschehen zusätzlich mit einer Kamera zu verfolgen und den Schauspielerinnen dabei manchmal sehr dicht auf die Pelle rückend, war, rein handwerklich gesehen, großartig, und ist ja auch längst ein probates Mittel im Theater geworden, die großen Vorgänge auf der Bühne ins Intime zu zerren oder sie zu kommentieren. Oft allerdings gab es den großen Vorgang auf der Bühne erst gar nicht, man ging gleich zum Filmen über. Und so war man eingeladen zum Hören, Schauen und Staunen, auch mal zum Ekeln, wenn Spucke (nicht selten) im Spiel war. Bloß nicht zum Denken.
Ironische Entspannung gab es kurz vor der Pause: Müllers Monolog eines Mannes im Fahrstuhl aus dem „Auftrag“, in dem einem Angestellten auf dem Weg zum Chef eben dieser Auftrag verloren geht. Zum Schlager „Damals war alles so schön …“ von Bärbel Wachholz von 1959 wurde ein rotes Tuch heruntergelassen, vor dem Torsten Ranft diese Inkarnation eines Kretins dann auch noch liebevoll sächselnd anlegte. Man kann es sich auch leicht machen.
Caren Pfeil
Dantons Tod von Georg Büchner unter Verwendung von "Der Auftrag" von Heiner Müller, Regie: Frank Castorf. Schauspielhaus
Auf der Bühne:
Marin Blülle, Philipp Grimm, Jannik Hinsch, Sven Hönig, Nihan Kirmanoğlu, Friederike Ott, Franz Pätzold, Torsten Ranft, Nadja Stübiger, Josephine Tancke, Lukas Vogelsang
Live-Kamera: Andreas Deinert, Julius Günzel / Eckart Reichl
Live-Schnitt: Diana Stelzer / Theresa Tippmann
Boom-Operator: Moritz Lippisch / Christian Rabending
Bühne: Aleksandar Denić
Kostüme: Adriana Braga Peretzki
Musik: William Minke
Lichtdesign: Johannes Zink
Videodesign: Andreas Deinert
Videoschnit: Maryvonne Riedelsheimer
Dramaturgie: Jörg Bochow
Künstlerische Produktionsleitung: Sebastian Klink