Um zwischen den Welten zu schweben
Zwei Ballettpremieren an der Semperoper
Wegen Abwesenheit der Dresdner Staatskapelle, die auf zehntägiger Gastspielreise in China weilt, musste der neue Ballettabend des Semperoper Ballett planmäßig mit Musik vom Tonträger konzipiert werden. Eine durchaus gängige Methode im zeitgenössischen Tanz, der sich gerade über stilistische Offenheit und musikalische Vielseitigkeit definiert. Unter dem Titel WINGS AND FEATHERS brachte Balllettdirektor Kinsum Chan zwei sehr unterschiedliche tänzerische Handschriften zueinander, die sich letztendlich zu einem beeindruckenden Gesamterlebnis fügten. Eine Verbindung stellte sich nicht nur durch die jeweiligen elektronischen Kompositionen her, deren rhythmisch betonte wie auch lautstärkemäßig extreme Passagen ein eher klassisch orientiertes Publikum herausfordert. Verblüffender war die thematische Nähe der zwei schon vor Jahren auf unterschiedlichen Kontinenten uraufgeführten Werke.
Der erste Teil COLOSSUS wurde 2018 von der australischen Choreographin Stephanie Lake am Arts Center in Melbourne mit Musik von Robin Fox herausgebracht. Aktuell ist sie für drei Jahre Artist in Residence beim Semperoperballett. In Dresden konnte sie für ihre szenische Recherche über das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft über 50 Tänzerinnen und Tänzer inszenieren. Mit dabei auch 16 Studierende der Palucca Hochschule für Tanz. Doch egal ob gestandene Solist:innen, Mitglieder des Corps de Ballet oder Studierende - in einem streng graphisch gehaltenen Bühnenbild aus schwarzgekleideten Körpern vor dunkler Rückwand finden sich alle in einer gleichgeschalteten, zuerst synchron am Boden und später in verschiedenen Sitz- oder Stehbildern organisierten Masse wieder. Dazwischen Gehen und Rennen nach Kommandos Einzelner. Nackte Arme und Beine schreiben zu einer Stimme aus dem Off eine streng durchkomponierte, gestische Partitur in den Raum, dazu kommen rhythmisches Atmen der Tanzenden, Körperpercussion, auch Schreie.
Körpermassen bewegen sich mit blitzschnellen Richtungswechseln über die Bühne, Haltungen werden voneinander abgenommen und erstarren wieder in Posen. Es gibt nur einzelne Abspaltungen und kurze solistische Ausbrüche, kaum Sprünge. Offen bleibt, wer hier wen verführt oder kommandiert. Parallelen zu aktuellen gesellschaftlichen Dynamiken stellen sich jedoch trotz der großen Abstraktion her. Poetischer wird es gegen Ende - ein Schattenballett wie aus der Unterwelt, wo sich einzelne tanzende Körper auf der Bühnenrückwand groß und vervielfältigend über die Liegenden auffächern. Ein dramatisch wie technisch überraschendes Schattenspiel bildet auch das Finale des zweiten Stückes. VERTICAL ROAD entstand 2010 in Leicester.
Spät kommt der bekannte Choreograph Akram Khan damit erstmals auf die Bühne der Semperoper. Mit seiner einzigartigen Verbindung von westlichem zeitgenössischen Tanz, indischem klassischen Tanz und anderen östlichen Tanzstilen hat er viele Fans in der Theaterwelt. Auch ich liebe seine ausufernden, sinnlichen Bewegungen und dramatischen Gesten. Seine oft spirituellen Stücke waren mehrfach bei Gastspielen in HELLERAU zu sehen, darunter auch schon „Vertical Road“.
Er entführt damit nach Musik von Aditya Prakash/Nitin Sawhney in die Welt der Legenden, wo eine Gruppe von Gleichgesinnten in einem endlos scheinenden Ritual von diagonal ausgerichteten oder im Raum kreisenden Bewegungen eine Statue anbeten. Ein Reisender kommt dazu, Staub rieselt bei Kontakt von der eingefrorenen Figur (Sarika Emi), der sich nun wie eine Wolke von allen Tanzenden im schwarzen Bühnenbild abhebt und die Flüchtigkeit der Bewegungen betont. Die Statue lässt sich durch den Mann (Jón Vallejo) nicht zu körperlicher Nähe verleiten und geht in der Gruppe auf.
Auch hier also eine anonyme Masse und ein Individuum, das seinen Platz in diesem Gefüge sucht. Schade nur, dass der Reisende selbst so wenig zu tanzen hat, sondern mehr beobachtet, umrundet, verharrt. Sein größeres Solo gegen Ende erfüllt im wallenden, an indische Kleidung angelehnten Hosenkleid den choreographischen Stil von Akram Khan bildhaft schön. Wie auch das gesamt Ensemble diese spirituell inspirierte Reise mit tänzerischer Präsenz und Hingabe gestaltet. Das Publikum belohnte das Semperoper Ballett für diesen Abend mit viel Beifall.
Isolde Matkey
Wings and Feathers Zweiteiliger Ballettabend des Semperoper Ballett mit „Colossus“ von Stephanie Lake, Musik: Robin Fox und „Vertical Road“ von Akram Khan, Musik: Aditya Prakash, Nitin Sawhney. Semperoper.
Nächste Vorstellungen: 14., 19., 20., 23. November 2025.
www.semperoper.de
