Das Leid und den Schmerz kann man nicht visualisieren

Ein Interview Jasmila Žbanić zu ihrem Film "Quo Vadis, Aida?"

“Quo Vadis, Aida?” erzählt von den dramatischen Tagen vor dem Massaker in Srebrenica im Juli 1995, bei dem 8000 fast ausschließliche männliche Zivilisten von der bosnisch-serbischen Armee unter Ratko Mladić ermordet und in Massengräbern verscharrt wurden. Die holländischen UN-Soldaten währten nur wenigen in ihrem Lager Schutz. Im Mittelpunkt von Jasmila Žbanićs für den Oscar nominierten Dramas steht die Übersetzerin Aida, die für die UN arbeitet und versucht ihre Familie und andere Menschen zu retten. Ein Film gegen das Vergessen. Margret Köhler hat mit der preisgekrönten in Sarajevo geborenen Regisseurin für SAX gesprochen.

SAX: Im Juli jährte sich das Massaker von Srebrenica zum 26. Mal. Ist Ihr Film ein Fanal gegen das Vergessen?
Jasmila Žbanić: Mich hat vor allem die menschliche Seite interessiert, weniger das Datum. Ich habe so viel Leid gehört und versucht, den Bogen zu unserer heutigen Welt schlagen. Wir wussten auch nicht, wann wir fertig sein würden oder ob überhaupt. Die Finanzierung war sehr schwierig, insgesamt dauerte die Arbeit fünf Jahre, allein das Drehbuch habe ich x Mal umgeschrieben. Aber wenn mein Film Menschen an das schreckliche Ereignis erinnern kann und zu Fragen motiviert, wie so etwas in Europa passieren konnte, um so besser. Mir ging es darum, die Reise der Menschen zu zeigen, die das alles durchgemacht haben.

SAX: Mir scheint, dieser Krieg wurde bewusst aus dem Gedächtnis getilgt. Andererseits wollen Leute auch vergessen, sonst können sie kein neues Leben anfangen.
Jasmila Žbanić: Wir haben ein sehr komplexes und in der Region immer noch sehr politisches Thema aufgegriffen. Ich wusste, dass ich mich in die Nesseln setzen würde. Politisch wird das Massaker geleugnet und verdrängt. Auch weil viele Politiker in die Entscheidungen eingebunden waren und jetzt nichts mehr davon wissen, nicht mehr darüber reden wollen. Mich beschäftigt die Frage, wie die Entscheidungen heute ausfallen würden und bin da nicht sehr optimistisch. Für mich fehlt es an Solidarität, am Glauben an humanistische Werte, die nur für bestimmte Privilegierte existieren, nicht für alle. Und wenn ich sehe, wie faschistische Strukturen und rechte Regierungen in Europa zunehmen, aber auch im Rest der Welt, macht mir das Sorgen.

SAX: Ist die Geschichte ganz fiktional oder gibt es einen wahren Hintergrund?
Jasmila Žbanić: Wir hatten die Rechte an Hasan Nuhanovićs Buch gekauft, er war damals Übersetzer. Mit den fiktionalen Charakteren haben wir uns bemüht, die Ereignisse und Gefühle so wahrhaftig wie möglich wiederzugeben. Eine ziemliche Gratwanderung zwischen dokumentarischen und fiktionalen Aspekten. Die üblichen bekannten Fernsehbilder reichten mir nicht, ich wollte einen stärkeren emotionalen Zugang.

SAX: Ich kann mir vorstellen, dass die Recherchen schwierig waren, die Gespräche mit Überlebenden.
Jasmila Žbanić: Die meisten sind traumatisiert, bei vielen Schicksalen möchte man nur weinen. Ich habe eine Frau getroffen, die 60 Menschen verloren hatte, den Vater, Brüder, Söhne, männliche Verwandte. Eine andere Frau, die Mann und Söhne verloren hat, sucht seit 25 Jahren nach deren Überresten. 1.700 Leichen wurden noch nicht gefunden. Das Leid und den Schmerz kann man nicht visualisieren. Einmal im Jahr treffen sich Überlebende am Srebrenica Memorial, ich weiß nicht, wie sie das alles verarbeiten, woher sie die Kraft nehmen und diese Humanität. Es gibt nicht einen einzigen Rachefall in Bosnien. In vielen Organisationen sind Frauen vertreten, sie machen weiter, auch damit die Welt von dem Unrecht erfährt. Hausfrauen, Arbeiterinnen, Akademikerinnen. Für all diese Kämpferinnen steht Aida.

SAX: Wie haben Sie die Figur der Aida entworfen? Sie ist eine Kämpferin zwischen all den Männern.
Jasmila Žbanić: Ich brauchte eine Identifikationsfigur. Vieles was ich erfahren habe, inspirierte mich für die Figur. Deshalb ist „Quo vadis, Aida?“ vor allem die Geschichte einer Frau, die ihren Mann und ihre zwei Söhne retten will. Ich bin Feministin. Der weibliche Blick auf den Krieg ist ein ganz anderer als der männliche. Ich versuche, alles Spektakuläre und Spekulative zu vermeiden. Diese oft kindliche Freude von Männern an Panzern und Kriegsgerät ist mir fremd. Sogar Antikriegsfilme vermitteln oft einen bestimmten Eros oder irgendeine Lust am Krieg. Für mich hat Krieg nichts Faszinierendes, sondern nur etwas Abstoßendes. Das merkt man dem Film hoffentlich an.

SAX: Was sagen Sie zu dem Vorwurf, Sie hätten General Ratko Mladić überzeichnet?
Jasmila Žbanić: Um genau diesem Vorwurf von Mladić-Anhängern zu entkräften, haben wir seine Worte übernommen und nichts erfunden. Er ist ein Kriegsverbrecher, in Srebrenica wurde unter seinem Kommando Völkermord begangen, dass er Süßigkeiten an Kinder verteilte ist in diesem Zusammenhang zynisch.

SAX: Waren die holländischen UN-Soldaten wirklich so hilflos? Hätten Sie das Massaker nicht doch verhindern können?
Jasmila Žbanić: Mein Film wendet sich nicht gegen die UN. Aber die sollte keine politischen Interessen verfolgen, sondern sich den Human Rights verpflichtet fühlen. Die Blauhelme hätten sicherlich die vor dem Camp wartenden Menschen aufnehmen oder sie irgendwo hin transportieren können. Ich bin überzeugt, hätte es sich nicht um Muslime, sondern um Katholiken gehandelt, wären die Reaktionen anders ausgefallen. Die Holländer weisen alle Schuld von sich. Aber warum haben sie nicht durchgegriffen, zurückgeschossen? Das wäre erlaubt gewesen. Sie haben nicht eine einzige Kugel abgeschossen. Der Report nach dem Genozid attestiert den Holländern mangelnde Vorbereitung, sie hausten in ihrem Camp weit weg von der Bevölkerung, wussten nicht, was draußen vorging. Viele der sehr jungen Soldaten, die erstmals im Ausland eingesetzt wurden, waren total überfordert. Auch von ihnen sind viele traumatisiert.

SAX: Sie sagen, es gab keine Racheakte seitens der Opfer. Aber wie leben die Menschen heute miteinander? Das muss doch furchtbar sein, den Mörder seines Mannes als Nachbarn zu haben.
Jasmila Žbanić: Ich zähle zu meinen Freunden Juden, Kroaten, Serben... Die Politiker bestimmen das Verhalten, sie schüren Angst, um ihre Pfründe nicht zu verlieren, die Wiederwahl zu gewinnen. Nicht wenige würden ihren Job verlieren, wenn es zu einer ehrlichen Aufarbeitung käme. Der Bürgermeister von Sebrenica leugnet immer noch das Massaker. Deshalb durften wir dort auch nicht drehen. Vielleicht kann die junge Generation etwas ändern, das ist meine einzige Hoffnung.

Quo Vadis, Aida? Bosnien-Herzegowina, Deutschland, Frankreich, Österreich, Polen, Rumänien, Niederlande, Norwegen 2020, Regie: Jasmila Žbanić
Mit Jasna Đuričić, Izudin Bajrović, Boris Ler, Dino Bajrović, Boris Isaković
Ab 5. August im Programmkino Ost
www.farbfilm-verleih.de