Die Banalität des Bösen

Ein Interview mit Christian Friedel zum Film »The Zone of Interest«

Foto: Emilio Madrid

Der 1979 in Magdeburg geborene Christian Friedel ist in Fernsehen und Kino, auf der Bühne und in der Musik gleichermaßen zu Hause. Vor 15 Jahren erlangte er erste Leinwand-Berühmtheit als Dorfschullehrer in Michael Hanekes mit der Goldenen Palme in Cannes ausgezeichnetem Film »Das weiße Band«; er spielte den Hitler-Attentäter Georg Elser für Oliver Hirschbiegel und ist festes Mitglied des »Babylon Berlin«-Ensembles. Friedel spielt und inszeniert am Theater, nicht nur in Dresden, aber hier unter anderem den »Macbeth« und macht erfolgreich Musik mit seiner Band Woods of Birnam. In »The Zone of Interest« des britischen Regisseurs Jonathan Glazer gibt er an der Seite von Film-Ehefrau Sandra Hüller den Kommandanten des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz. Der Film war für fünf Oscars nominiert, unter anderem für Großbritannien in der Kategorie »International Feature«. Diesen Oscar sowie den für den besten Sound gewann der Film. Schon vorher gab es den Großen Preis der Jury in Cannes, drei BAFTA-Awards für den Sound, den Besten britischen und (!) den Besten nicht-englischsprachigen Film. Angela Stuhrberg hat für die SAX mit dem Schauspieler Anfang Februar in Dresden zwischen zwei »Macbeth«-Aufführungen gesprochen.

SAX: Wie kam es zu der Zusammenarbeit mit Jonathan Glazer?
Christian Friedel: Jonathan kannte mich aus »Das weiße Band«, und die leider zu früh verstorbene Castingdirektorin Simone Bär, die mich auch für Hanekes Film entdeckt hatte, hat ihn auf mich aufmerksam gemacht. Dann musste ich ein Video aufnehmen und mich vorstellen und erzählen, warum ich Schauspieler geworden bin, ohne zu wissen, um was für ein Thema oder was für eine Rolle es sich handeln wird. Ich durfte wählen, ob ich es auf Englisch oder Deutsch mache, und da habe ich mich für Deutsch entschieden, weil es ganz natürlich rüberkommen sollte. Dann hat John mich nach London eingeladen, um mich persönlich kennenzulernen und mir zu erzählen, was er vorhat. Und da war ich sofort Feuer und Flamme. Ich bin mit seinen Videos von Radiohead oder Jamiroquai groß geworden, ohne zu wissen, dass der Regisseur Jonathan Glazer heißt. Später habe ich auch seine drei Kinofilme gesehen, die sehr unterschiedlich, aber beeindruckend in der künstlerischen Handschrift sind. Und mit dem Wissen, wie sehr seine Kunst mich inspiriert hat, wollte ich unbedingt Teil eines Jonathan-Glazer-Projektes sein.

SAX: »The Zone of Interest« ist ein britischer Film, gedreht wurde auf Deutsch. Wie hat das funktioniert? Jonathan Glazer spricht nicht Deutsch, oder?
Christian Friedel: Er spricht nicht Deutsch. Ich fand es wirklich erstaunlich, dass er gefühlt hat, ob etwas zu viel ist, ob etwas richtig klingt. Er sagte, Kunst sei eine universelle Sprache, und wir alle können sie verstehen – das fand ich toll. Es ist ja auch nicht so existenziell wichtig, was wir in dem Film sagen, es ist eher das, was man nicht sieht und wie wir uns verhalten. Es gab zudem natürlich einen Übersetzer. Und wir haben mit einem Multikamera-System gedreht, und Jonathan hatte in seinem Trailer zehn Monitore und auf einem Ohr den Übersetzer und auf dem anderen Ohr den Originalton und hat dann immer gehört, was wir gesagt haben.

SAX: Es wurde am Originalschauplatz gedreht. Wie muss ich mir das vorstellen?
Christian Friedel: In der originalen Höß-Villa konnte man nicht drehen, das Haus ist in die Jahre gekommen und außerdem bewohnt. Aber ganz in der Nähe befand sich ein leerstehendes Haus, das wurde für den Dreh umgebaut. Es musste ja alles ganz neu wirken, nicht nur das Haus, auch die Lager-Mauern. Und der Garten war komplett neu angelegt, ein halbes Jahr vorher gepflanzt. Wir haben drei Monate, einen ganzen Sommer lang, in Oświęcim gelebt, und auf der Fahrt zur Arbeit hast du dann immer das Lager gesehen. Es war wichtig, jeden Tag daran erinnert zu werden, was wir da eigentlich machen und welche Verantwortung wir tragen. Wir haben die Außenszenen umgeben von einem Greenscreen gedreht, die Lagergebäude, die man hinter der Mauer sieht, wurden von der Visual-Effects-Abteilung nachträglich eingefügt. Dennoch war das Lager, Auschwitz I, für uns in Sichtweite, und vielleicht 20 Meter hinter dem Green Screen befand sich der hintere Lagereingang, der zur Gaskammer I führte. Eine Szene haben wir im Keller vom originalen Haus gedreht. Da gab es ein Tunnelsystem, über das Höß ungesehen ins Lager und zurück kam. Das war ziemlich unheimlich, dort zu drehen. Ich stand auch in dem alten Kinderzimmer und habe aus dem Fenster geschaut. Und du konntest von dort direkt die Gaskammer und das Krematorium I­ sehen, und du konntest auch über die Mauer sehen. Du konntest niemals sagen: Ich habe nichts gesehen, ich habe nichts gewusst.

SAX: Du hast schon das Multikamera-System erwähnt, mit dem gedreht wurde. Die Kinozuschauer sind dadurch quasi heimliche Beobachter des Geschehens …
Christian Friedel: Das war eine total kluge Entscheidung. Wir wollten ja keine Biografie drehen, wir wollten diesen Figuren nicht irgendeine Wichtigkeit geben, die sie nicht verdienen. Aber es war wichtig zu zeigen, dass es Menschen waren, die diese Taten anderen Menschen angetan haben. Jonathan wollte, dass wir den Prozess des Filmemachens mit seinen technischen Unterbrechungen vergessen, manchmal haben wir auch eine Stunde lang improvisiert. Wir waren wirklich allein in diesem Haus, die Kameras waren dort überall verteilt, von manchen hat man nicht einmal gesehen, wo sie sind. Du hast sogar mitunter deine Kollegen parallel in einer Szene in einem anderen Raum gehört. Wenn man dem Hund folgt, sieht man, dass der vollkommen frei war, wenn umgeschnitten wird auf eine andere Perspektive, passt das exakt zusammen. Dadurch hast du das Gefühl, du schaust durch ein Fenster und beobachtest diese Menschen in ihrem täglichen Leben.

SAX: Welche Rolle spielt der Sound?
Christian Friedel: Im Drehbuch stand ja schon drin, was man hören wird, wenn auch noch nicht ganz genau ausformuliert. Aber es stand drin, dass man Schüsse hört, Schreie hört. Das Großartige ist aber, dass wir das am Set ja nicht gehört haben und uns dadurch normal bewegten. Es wäre schwieriger gewesen, wenn wir so hätten tun müssen, als ob wir etwas ignorieren. Und wenn jetzt diese Tonspur dazugefügt ist, merkt man plötzlich: Wie konnten die denn leben mit dieser Geräuschkulisse, wie konnten die das ignorieren? Der Sound ist so klug, er ist ja fast der Hauptdarsteller des Films. Tarn Willers und Johnnie Burn sind ein tolles Team, Tarn hat am Set den Ton gemacht und Johnnie die ganzen zusätzlichen Geräusche.

SAX: Sandra Hüller hat in einem Interview gesagt, dass sie in ihrem Leben eigentlich nie eine Nazi-Rolle spielen wollte. Sie hat sich zum Glück umentschieden. Wie war das bei dir?
Christian Friedel: Ich habe im Theater mal Arturo Ui gespielt, aber im Film alle Nazi-Rollen-Angebote ausgeschlagen. Das hat für mich immer so nach klischeehaften Szenen gerochen. Oft werden Nazis ja als diese perfekten Bösewichte dargestellt, und man konnte dann immer auf Distanz gehen und sagen: Das waren geborene Teufel, das hat nichts mit mir zu tun. Hier hat es für mich zum ersten Mal einen Sinn ergeben, die Seiten zu wechseln, weil sich für mich dieser Spiegel zu uns heute ergab. Man vergisst immer, dass dieses System ja vom Volk gewählt wurde. Und dieses Höß-Ehepaar ist ein Beispiel für sehr viele Menschen aus dieser Zeit, die das System akzeptiert, gestärkt und wie gerade auch Hedwig Höß aus ihrer eigenen Gier heraus für sich ausgenutzt haben. Wenn man heute eine Partei wählt, in der es nachgewiesen rechtsradikale Strömungen gibt, wenn man bereit ist, zu sagen, das nehme ich in Kauf, dann ist das schon der erste Schritt zu dem, was sehr viele Menschen in der damaligen Zeit gemacht haben, die auch verdrängt und ignoriert haben. Faschismus geht immer in Brutalität über. Und das ist eine Lehre, die man da vor Augen geführt bekommt.

SAX: Wie war es für dich, in diesem Bewusstsein und an diesem Ort einen Menschheitsverbrecher wie Höß zu spielen?
Christian Friedel: Als ich das Lager besucht habe, habe ich es ja als Christian besucht, aber auch als der, der jetzt diese Rolle spielen wird. Manchmal ist es mir schwergefallen, diese Bilder im Kopf zu haben, und sie dann wieder aus meinem Körper rauszuschütteln. Und manchmal war ich wirklich leer im Kopf. Jonathan Glazer wollte auch, dass man ihn, Höß, nie lesen kann, dass man ihm etwa in die Augen guckt und sagt »Ach, da isser«, sondern dass er auf mysteriöse Weise fast verschwindet. Wenn man Fotos aus seiner Zeit als SS-Obersturmbannführer und Lagerkommandant sieht, dann sieht man einen absolut selbstbewussten selbstherrlichen Typen, der von seiner Machtposition durchaus inspiriert zu sein scheint. Und wenn man ihn dann in den Nürnberger Prozessen sieht oder auch hört, dann merkt man, dass das ein ganz kleines Häufchen Elend ist. Das war eine interessante Diskrepanz. Und wenn du dann in Birkenau stehst und diese unfassbaren Dimensionen seines selbst geschaffenen Königreiches siehst, das war für mich als Inspiration wichtig, dafür, was er in seinem Körper, in seinem Gestus drinhaben könnte.

SAX: Siehst du Bezüge zur Figur des Macbeth?
Christian Friedel: Absolut. Auch meine Arbeit an Macbeth war sehr inspiriert von Jonathans Intention, darüber nachzudenken, wie Menschen sich verändern, wenn sie in Machtpostionen kommen und dann eigentlich nur noch damit beschäftigt sind, diese Machtpositionen zu halten, komme, was wolle. Ich glaube, diese Brutalität von Menschen, wie weit sie sich von sich selbst entfernen, wie weit sie fähig sind, zu verdrängen und wie sehr sie in die Dunkelheit gehen, wie man ja auch am Ende des Films sieht, das hat schon eine Parallelität zu Macbeth, auch wenn Macbeth sicher ein anderer Typ war. Menschen und Macht – das geht nie gut aus.

SAX: Der Film ist für fünf Oscars nominiert, in den Kategorien Beste/r Film, Internationaler Film, Adaptiertes Drehbuch, Regie und Sound. Bist du enttäuscht, dass es keine Darsteller-Nominierungen gab?
Christian Friedel: Man muss dazu sagen, dass das keine preisverdächtigen Performances sind, weil die Schauspieler so verschwinden, weil sie so observiert werden. Es sind keine expressiven, nach außen führenden Rollen, Sandras vielleicht noch ein bisschen mehr, weil ihre Perspektive eine andere ist. Wir machen die Kunst ja nicht für Preise. Ich denke, wenn ich als Hauptdarsteller den Höß nicht so spielen würde, wie ich ihn spiele, würde der Film nicht funktionieren. Aber na klar erwische ich mich auch manchmal dabei, wie ich darüber nachdenke … Ich fahre natürlich trotzdem hin, supporte den Film, freue mich, das Team wiederzusehen und drücke dem Film und allen Beteiligten die Daumen. (Der Film bekam die Oscars für den besten internationalen Film und den Sound, d.R.)

SAX: Du drehst Filme, arbeitest fürs Fernsehen, spielst und inszenierst am Theater, und du machst auch noch Musik mit Deiner Band …
Christian Friedel: Musik ist mein Anker. Nach dem Dreh einer besonders schwierigen Szene hatten wir zwei Tage später ein Konzert mit der Band in Halle. Das war meine große Angstszene, aber dann mit den Jungs wieder Musik zu machen, das ist einfach Balsam für die Seele. Ich finde dieses Wechselspiel total toll. Und durch den Film öffnen sich gerade wieder andere Türen, ich bekomme jetzt sogar in Amerika Aufmerksamkeit. Es würde mich langweilen, nur eine Sache zu machen. Ich finde es super, in Düsseldorf oder Dresden Theater zu spielen, und dann fährst du mal nach Hollywood und dann drehst du mal in Thailand (lacht).

SAX: Du wirst in der dritten Staffel von »White Lotus« mitspielen …
Christian Friedel: Ende Februar fliege ich zu den Dreharbeiten nach Thailand, bis Mitte Juni drehe ich dort mit zwei Unterbrechungen. Ich bin richtig glücklich damit und freudig aufgeregt und gespannt, weil es das erste Projekt ist, bei dem ich mit englischsprachigen Schauspielern und Schauspielerinnen vor der Kamera Englisch spreche. Ich hatte auch schon einen ganz tollen Kontakt zu Mike White, dem Showrunner, dem es ähnlich wie Jonathan Glazer wichtig war, erst mal die Leute kennenzulernen und das Drehbuch dann noch mal ein bisschen anzupassen. Es ist jetzt keine Riesen-Hauptrolle, aber es ist eine tolle Rolle und es ist großartig, dabei zu sein. Ich freue mich riesig.

Interview: Angela Stuhrberg