Ein Theaterbesuch ist kein perverses Hobby

Ein Gespräch mit Philipp Schaller, Künstlerischer Leiter der Herkuleskeule

Offene Briefe sorgen für lauteres Schweigen. Philipp Schaller ist einer der Initiatoren solch­ eines Aufschreis von privaten Theatermachern und Künstlern Mitte November, die meisten aus Dresden. Wie seine vier Geschwister ist er ein Sprößling des weitsichtigen Wolfgang Schaller – aber der einzige, der nun seit Januar 2020 in dessen Fußstapfen als Künstlerischer Leiter der Dresdner Herkuleskeule tritt. Sein jüngstes Soloprogramm »Sie mich auch!« feierte im September Premiere und erlebte danach sechs Vorführungen. Schaller spricht sich im SAX-Interview für mehr Kommunikation und Erklärung aus und gegen kurzfristige und willkürliche Schließungen. Zudem plädiert er für konkrete Hilfen und den verfügten Hygieneabstand in Privattheatern.

SAX: Hallo Herr Schaller, zum Zeitpunkt unseres Gespräches sind vier Tage sind nach dem Versand Ihres offenen Briefes vergangen – wie waren denn die ersten Reaktionen?
Philipp Schaller: Eine Stunde, nachdem wir unseren Brief verschickt haben, rief das Büro des Ministerpräsidenten bei Olaf Maatz, dem Direktor der Dresdner Comödie, an und lud ihn zu einer Videokonferenz mit anderen Dresdner Intendanten ein – sodass wir auch unsere Argumente in dieser Runde vorbringen konnten. Das hätte ich nicht erwartet, passt aber in mein Bild von Michael Kretschmer: Während die staatlichen Theater bei den »Stumme-Künstler«-Demos im Frühsommer mit solidarischer Abwesenheit glänzten: Kretschmer kam und hörte zu.

SAX: Wie war denn die Presseresonanz darauf?
Philipp Schaller: Für uns überraschend, gab es viele Anfragen – für mich der Beleg, dass das Schweigen auffiel. Der erste Satz in der Morgenpost: »Nun kam er doch noch, der Aufschrei«. Peinlich, wenn die Presse die Theater fragen muss, wo der Aufschrei bleibt.

SAX: Man hätte diesen ja schon im Frühjahr erwartet, denn zahlenmäßig war es da in Sachsen, so man veröffentlichten Zahlen glaubt, ja weit lockerer. Warum kam er da nicht schon, Ihr Aufschrei?
Philipp Schaller: Im Frühjahr konnten wir die Schließung der Theater noch nachvollziehen – es gab zu wenige wissenschaftliche Erkenntnisse und keine Hygienekonzepte. Im Frühsommer kämpften wir vor allem für Hilfen für Soloselbstständige – die auch vom Überleben der Privattheater abhängig sind.

SAX: Kam Ihnen die frühe sächsische Öffnungsoption Ende Mai zeitig genug?
Philipp Schaller: Wir haben drei Tage vorher davon erfahren. Verkaufen Sie mal in drei Tagen Karten! Da hätten wir uns mehr Vorlauf gewünscht. Letztlich war es aber eine Frage der Wirtschaftlichkeit. Wir durften öffnen, aber die Abstandsregel ließ uns als Keule konkret nur 35 von 240 Plätzen. Da hätten wir massiv draufgezahlt, um spielen zu können. Als die Abstandsregeln etwas gelockert wurden, konnten wir uns mit Doppelvorstellungen und Kurzarbeit über den Sommer hangeln, wobei die Kurzarbeit für uns ein Glück war, das viele Theater nicht hatten, weil dort viele Schauspieler auf Honorarbasis spielen. Diese Schauspieler und Musiker, freien Techniker fielen einfach hinten runter – und tun es immer noch, denn die Hilfen sind im Kleingedruckten an Bedingungen geknüpft, die für viele Freischaffende eher Hohn als Hilfe sind.

SAX: Es ist ja eine stattliche Liste an Unterzeichnern geworden, aber es fehlen doch viele, eigentlich ganze Cluster – was haben Sie erwartet?
Philipp Schaller: Unser Brief ist über den Bühnenverein an sächsische Theater gegangen, die da Mitglied sind – es gab darüber zwei Rückmeldungen subventionierter Theater! Keiner muss unseren Brief gut finden, jeder kann einen eigenen schreiben oder anders laut werden – aber nichts dergleichen! Dieses Schweigen macht mir mehr Sorgen als die Schließung selbst. In der sächsischen Verfassung ist das Recht auf Kultur verankert: »Die Teilnahme an der Kultur ist dem gesamten Volk zu ermöglichen.« Ein Theaterbesuch ist also kein perverses Hobby, auch wenn es sich bei manchen Inszenierungen so anfühlt. Nein, Kultur hat in Sachsen Verfassungsrang!

SAX: Haben denn die Nicht-Beteiligten ihre Entscheidung irgendwie begründet?
Philipp Schaller: Nein. Natürlich können zur Pandemiebekämpfung auch Theater und Galerien geschlossen werden, keine Frage. Wenn es nachweislich dem Infektionsschutz dient, schließen wir unsere Theater – wir sind ja keine Asozialen. Mich bestürzt die Leichtfertigkeit, dass »einfach mal so« die 16 Länderchefs mit der Kanzlerin an den Parlamenten vorbei entscheiden – gegen jede Nachvollziehbarkeit, denn es gab schlichtweg keine nachgewiesenen Infektionen in Theatern! Baumärk­te und Gottesdienste bleiben geöffnet – während zum Beispiel Museen schließen. Diese Ungleichbehandlung fällt auf – und vor allem gehen die Infektionszahlen, Stand heute, wie erwartet nicht runter. Und gegen diesen Irrsinn gibt es so wenig Widerspruch seitens der Theater?

SAX: Wie sieht es denn aus Ihrer Sicht mit dem Schweigen in anderen Ländern aus?
Philipp Schaller: In Berlin haben alle Intendanten einen gemeinsamen Brief an den Senat verfasst – warum ist das nicht in Dresden oder Sachsen möglich? Sind wir immer noch so provinziell, dass wir im vorauseilenden Gehorsam mit allem einverstanden sind? Ich fürchte, wir sind es! Es gibt wohl die Sorge, das habe ich jedenfalls als Gegenargument gehört, dass die Bevölkerung von dem Genöle der Kultur genervt sein könnte, ganz im Sinne der NRW-Kulturministerin Pfeiffer-Poensgen, die die Kultur vor einer Extrawurst warnte. Geht’s noch? Extrawurst? Gestern war im Kanzleramt der zweite Autogipfel. Ich kann mich nicht erinnern, dass es in irgendeiner Landesverfassung den Satz gibt: Dem Volk ist die Teilnahme am Autokauf zu ermöglichen. Auf einen Kulturgipfel können wir wohl lange warten.

SAX: Wie wird denn das Thema in der sogenannten »Dresdner Intendantenrunde« diskutiert?
Philipp Schaller: Die Dresdner Intendantenrunde ist ja eher ein halbinformelles Treffen. Und was da besprochen wird, sollte auch dort bleiben. Aber man merkt, auch außerhalb dieser Runde, dass die Interessen und Bedürfnisse der staatlich geförderten Theater andere sind als die der Privattheater. Das ist auch logisch und in Ordnung so. Kein Privattheaterleiter missgönnt den vom Land bezahlten ihre Absicherung. Die staatliche Förderung ist ein Segen – durch sie können es sich die Theater leisten, auch experimentelle oder beim breiten Publikum nicht so durchschlagende Stücke auf die Bühne zu bringen, zu bezahlbaren Kartenpreisen. Das ist in Europa einzigartig und ich als Rezipient profitiere auch davon. Danke! Aber genau das sollte doch zu Solidarität führen, denn erstens wird diese Förderung durch unser aller Steuern finanziert, zweitens stünde es einer Stadt, die sich mal als Kulturhauptstadt beworben hat, gut zu Gesicht, und drittens lebt gerade die Dresdner Kulturlandschaft von ihrer Vielfalt, ihrer Buntheit. Vom Augusttheater in Pieschen über die Herkuleskeule, über den Comedy-und-Theater-Club, die Kammerspiele, die 1001-Märchen-GmbH, bis zur Comödie – und viele andere. Wenn dieser Reichtum verloren geht, verlieren auch die großen Häuser.

SAX: Was genau fordern Sie?
Philipp Schaller: Dass in Zukunft differenzierte Instrumente zur Pandemiebekämpfung eingesetzt werden, die eine wirtschaftlich vertretbare Offenhaltung der Kulturstätten beinhalten. Es geht auch um Arbeitsplätze! In unseren Theatern arbeiten viele Menschen, es muss vor allem darum gehen, diese Arbeitsplätze zu erhalten. Das ist auch langfristig mit Kurzarbeit nicht zu erreichen, denn viele Kosten laufen ja weiter. Dem Staat ist wohl nicht gedient, wenn wir unsere Angestellten dem freien Markt zur Verfügung stellen, um es mal poetisch auszudrücken. Das heißt, wir brauchen auch etwas mehr Planungssicherheit. Auch finanzielle! Wenn zum Virusschutz nur ein Teil der Plätze verkauft werden kann, könnte kein Privattheater öffnen, also muss es langfristige, natürlich zeitlich befristete Hilfen geben, wie der Staat die gesperrten Plätze wenigstens teilweise fördert. So könnten wir auch für wenige Zuschauer spielen, die Theater bleiben offen und haben wenigstens etwas finanzielle Planungssicherheit. Dafür müssen jetzt Lösungen her! Diese Bitte richten wir an jeden politischen Entscheidungsträger – wirklich an jeden, der die Möglichkeit hat, auf solche Lösungen hinzuarbeiten. Wir haben dafür ein Konzept skizziert und es dem Ministerpräsidenten überreicht. Das muss nicht der Weisheit letzter Schluss sein, vielleicht gibt es bessere Ideen – aber langfristige Hilfen kommen den Staat am Ende billiger als ein massives Kultursterben.

SAX: Es gab zwei Tage vor Ihrem Brief einen anderen von diversen Künstlern, leicht anders akzentuiert. Könnten Sie sich mit diesen zusammenfinden?
Philipp Schaller: Von diesem Brief wussten wir, fanden ihn aber nicht praktisch genug in der Formulierung. Vor allem wollten wir dem Ministerpräsidenten konkrete Vorschläge unterbreiten. Trotzdem ist es natürlich gut, dass dieser Brief aus den Ensembles der Operette und Semperoper initiiert wurde.

SAX: Sind vielleicht eine noch breitere Vernetzung und Proteste notwendig?
Philipp Schaller: Unbedingt! Vor allem eine stärkere Vernetzung zwischen Politik und Kultur – eine bessere Kommunikation. Regelmäßige Gespräche mit allen Theaterleitern könnten dazu beitragen, dass Hilfen wirklich greifen. Außerdem wäre es sinnvoll, wenn wir vor der Bekanntgabe von Maßnahmen informiert werden würden – nicht, um Erlaubnis zu fragen, sondern damit wir die Gründe nachvollziehen und gegenüber unseren Ensembles und nicht zuletzt auch vor unseren Gästen vertreten können. Die jetzige Nicht-Kommunikation führt nur zu Frust und Unverständnis. Auch das treibt manche Künstler auf die Demos, auch wenn sie keine Virusleugner sind, sondern sich als Freischaffende allein gelassen fühlen und schlichtweg Angst haben, ob sie in Zukunft noch das Essensgeld für ihre Kinder bezahlen können.

SAX: Erfahren Sie und Ihre Kollegen Solidarität aus dem Publikum einerseits und der Kulturpolitik andererseits?
Philipp Schaller: Das Publikum ist großartig! Solidarität ist ja auch, seine Karten nicht zurückzugeben, sondern immer wieder geduldig auf einen neuen Vorstellungstermin verschoben zu werden. Manche Zuschauer schenken uns sogar ihre gekauften Karten. Viele schreiben uns, dass sie uns vermissen. Das höre ich von allen Kollegen. Die größte Solidarität ist aber, wieder in unsere Programme zu kommen, sobald wir wieder öffnen. Das haben wir im Sommer und Herbst gemerkt: Unsere Zuschauer kamen, ertrugen alle Hygienemaßnahmen und waren froh, dass sie wieder Kultur erleben. Die Vorstellungen im Sommer hatten eine sehr besondere Stimmung. Bei der Kulturpolitik gibt es Luft nach oben, auch wenn ich sagen muss, dass wir mit Barbara Klepsch eine Kulturministerin haben, die zuhören kann und neugierig darauf ist, wo die Probleme liegen.

SAX: Welche Hilfsprogramme halfen Ihnen bisher beim Überleben, was müsste anders werden?
Philipp Schaller: Wir haben über die SAB eine Förderung und über die Stadt eine Projektförderung bekommen. Was aber anders werden muss: Das Stückwerk muss weg, hin zu langfristigen, sicheren Hilfen. Dieser Zwei-Wochen-Rhythmus der Entscheidungen – was wird verboten, was wird gelockert – schlaucht, kostet Unmengen Geld und vergrault uns die Gäste. Das haben wir und unsere Zuschauer jetzt monatelang mitgemacht.

SAX: Können Sie derzeit eigentlich noch witzige Satireprogramme schreiben, ohne die Gefahr, in Zynismus zu verfallen?
Philipp Schaller: Zynismus ist weniger das Problem. Unsere Gesellschaft, insbesondere die Dresdner, waren schon vor Corona gespalten, vor allem in der Flüchtlingsfrage. Diese Spaltung hat sich durch Corona potenziert – und wenn man, so wie ich, glaubt, dass der künstlerisch produktivste Ort zwischen den Stühlen ist, dann wird das immer schwerer. Andererseits ist diese Herausforderung auch aufregend – ein Satiriker sollte nicht darüber jammern, Arbeit zu haben.
Interview: Andreas Herrmann

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